The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Palme, zwei Vögel und einen dicken gelben Skorpion gemalt. Im Tor steht ein hüfthoher Tisch wie eine Art Rezeption.
Da anscheinend niemand anwesend ist, schleiche ich näher und blicke in einen schummrigen Innenhof, der von einem undurchdringlichen Drahtgeflecht durchzogen ist. Ich blinzele einen Moment, doch gerade als ich beginne, einzelne Käfigreihen voneinander unterscheiden zu können, erhebt sich irgendwo ein struppiges Fellbündel und wird zu einem Schäferhundmischling. Er dreht den Kopf in meine Richtung und schnüffelt überrascht in die Luft. Dann stößt er ein heiseres Bellen aus, und der Rest des Innenhofs erwacht: Dutzende von stumpfen Augenpaaren öffnen sich, und überall stehen die Hunde taumelnd in ihren Käfigen auf, um die Luft mit ihrem traurigen Geheul zu erfüllen.
Ich weiche unwillkürlich einige Schritte zurück. Hier wird zwar offensichtlich nicht für die Schlachtereien produziert, sondern es geht um Haustierhandel, aber die Lebensumstände der Hunde sind trotzdem furchtbar. Ihr Geheul gellt in meinen Ohren, während ich das Bild mit der Palme und den Vögeln anstarre. Mama wäre an diesem Ort zur ungarischen Furie geworden, hätte Zeter und Mordio geschrien und die Besitzer in der Luft zerrissen. Nicht auszuschließen, dass sie ihnen körperlichen Schaden zugefügt hätte. Niemand durfte sich an ihren Hunden vergreifen.
Ich überlege kurz, dann drehe ich mich um und gehe zur Landstraße zurück. Meine Schritte werden schneller und schneller, und nach einer Weile ist das Geheul hinter mir nicht mehr zu hören.
Zum Glück ist Dingzhou eine ziemlich freundliche Stadt: Die breite Hauptstraße ist von Bäumen gesäumt, und überall reihen sich Restaurants und Geschäfte aneinander. Ich setze mich auf einen Meilenstein, denn meine Füße schmerzen. Besonders der mit der Blase an der Ferse. Ein Bus fährt vorbei, hupt und stößt eine schwarze Rauchwolke aus, die sich in Zeitlupe über mir und der Straße niederlegt. Ich fasse den Entschluss, in das erste Hotel zu gehen, das ich sehe.
Am nächsten Morgen blicke ich überrascht meinem Atem hinterher, der als blasses Wölkchen in der Kälte des Zimmers verschwindet. Die müssen über Nacht die Heizung abgestellt haben! Ich halte einen Arm aus der Öffnung meines Schlafsacks, ziehe ihn aber sofort wieder in die wohlige Wärme zurück. Lieber erst noch mal umdrehen und die Augen schließen, bis es draußen etwas wärmer geworden ist.
Als ich endlich aufstehe, ist es bereits kurz vor Mittag, und mir wird klar, dass ich heute nirgendwo mehr hinkomme. Ich kann höchstens ein besseres Hotel suchen und mir auf dem Weg ein bisschen was von Dingzhou angucken. So laufe ich eine Weile planlos durch die Straßen und komme dabei zu dem Schluss, dass diese Stadt, die immerhin eine Million Einwohner hat, doch eher mit Hameln als mit Hamburg vergleichbar ist: langsamer Verkehr, niedrige Häuser, die Atmosphäre freundlich, aber verschlafen.
Doch dann sehe ich sie: eine turmhohe, grazile, beige leuchtende Pagode! Elf Stockwerke recken sich in den blauen Himmel. Sie ist wunderschön. Aber wo ist nur der Eingang?
»What a pity«, ruft eine Stimme hinter mir, »the pagoda is closed!« Überrascht drehe ich mich um und erblicke zwei junge Mädchen, die sich offensichtlich sehr darüber freuen, dass ich sie verstanden habe. Sofort bekomme ich eine Einführung in die Geschichte des Bauwerks: Ob ich wirklich nicht wisse, dass dies die höchste noch stehende Pagode ganz Chinas sei?! In der Song-Dynastie habe man sie erbaut, um von ihrem Dach aus die feindlichen Truppenbewegungen im Norden überblicken zu können. Deshalb werde sie auch Liaodi genannt, »den Feind abschätzen«.
Aber welchen Feind denn? Ich überlege einen Moment lang, und mit einem Mal ergeben die endlosen Stunden im Unterseminar »Chinesische Geschichte I und II« einen Sinn: Ich muss in den vergangenen Tagen, ohne es zu bemerken, eine historische Grenze überschritten haben! Vor fast zehn Jahrhunderten, etwa zur gleichen Zeit, als sich im fernen Europa der König Heinrich IV. krabbelnd auf seinen Canossa-Gang vorbereitete,stand hier das chinesische Reich der Song einem mächtigen Reitervolk aus dem Norden gegenüber: den mongolischen Khitan, deren beide Pagoden ich in Zhuozhou bereits bewundern durfte. Die verteidigungsbesessenen Han-Chinesen müssen damals diesen Turm, der mit vierundachtzig Metern fast doppelt so hoch ist wie die Zwillingspagoden, wirklich als eine Art Wachturm angelegt
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