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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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schickt ihre letzten wärmenden Strahlen, und mir scheint, als ob ich der einzige Besucher der ganzen Anlage bin. Einen kurzen Moment lang döse ich ein, und als ich den Blick wieder hebe, steht ein Mann in einem weinroten Jackett vor mir.
    »Oh, ein ausländischer Freund!«, poltert er und grinst, dass sich sein Doppelkinn spannt und sein Oberlippenbart kräuselt. »Was machst du denn hier?«
    Na, was wohl? »Urlaub«, antworte ich in der Hoffnung, es dabei bewenden lassen zu können.
    Doch ein schneller Blick hat ihm bereits alles offenbart. »Du bist zu Fuß unterwegs«, sagt er, »ein Wanderer bist du!« Er zeigt auf meinen Trekkingstock. Seine Gefolgschaft – sechs Herren und eine junge Frau – lächelt anerkennend, und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu nicken.
    »Wo kommst du her?«, fragt er weiter.
    »Ich bin Deutscher, auf dem Weg von Beijing nach Shijiazhuang.«
    »Hm, nicht schlecht! Und heute willst du nach Xinle, oder?«
    »Ja.«
    »Das ist gar nicht mehr weit!« Mit einer ausholenden Handbewegung zeigt er auf ein paar rauchende Türme in der Ferne. »Dort ist die Stadt, und da ist auch gleich mein Badehaus!«
    Ihm scheint eine Idee zu kommen, denn er dreht sich mit einer überraschend flinken Bewegung zu seiner Gefolgschaft um. »Leute«, sagt er, »unser deutscher Freund kommt mit uns!« Dann fügt er feierlich hinzu: »Bei uns kriegt er etwas zu essen und ein Bett für die Nacht!«
    Die Gefolgschaft ist begeistert. »Großer Bruder Dong, was für eine tolle Idee!«, quakt ein Mann, der mich mit seinem breiten Gesicht und dem Froschmund an einen kantonesischen Koch erinnert, den ich mal auf einer Reise in den Süden kennengelernt habe. Die junge Frau lächelt. »Onkel Dong, du bist so großzügig!«, schwärmt sie, und dann wendet sie sich an mich. »Weißtdu eigentlich, was für ein Glück du hast, dass du ihn hier getroffen hast?«
    Was soll ich nur sagen? Ich bin mir noch nicht einmal sicher, welche Anrede jetzt am passendsten wäre. Wie soll ich den Mann nennen? Großer Bruder? Onkel? Herr Dong?
    Die chinesische Höflichkeit ist manchmal schwer zu durchschauen: Überall scheint es nur so zu wimmeln von großen und kleinen Geschwistern, von Onkeln und Tanten, Omas und Opas, von Schwägern und von Schwägerinnen, und man könnte durchaus meinen, jeder sei irgendwie mit jedem verwandt.
    Als ich in Beijing einmal mit zwei Mädchen in einem Club war, verkündete eine von ihnen überraschend, ihr großer Bruder werde gleich dazukommen. Geschwister gehen hier zusammen in die Disco?, dachte ich überrascht, und tatsächlich erschien kurz darauf ein junger Mann mit hochgegeltem Haar, Motorradjacke und Sonnenbrille, der uns lässig zunickte und seine kleine Schwester zur Begrüßung schwungvoll umarmte. Die beiden verschwanden auf der Tanzfläche, und ich blieb mit dem anderen Mädchen zurück.
    Da es zu laut für eine Unterhaltung war, saßen wir schweigend auf einer Couch und nippten an unseren Getränken. Mein Blick fiel auf eine Gruppe junger Leute, die um einen Tisch mit einem gigantischen bunten Fruchtteller und einer Whiskeyflasche saßen und ein Trinkspiel spielten, das irgendetwas mit Würfeln zu tun hatte und für sehr ausgelassene Stimmung zu sorgen schien. Daneben standen drei hochgewachsene Ausländer, die jeweils eine Hand in der Tasche und in der anderen eine Bierflasche hielten, während sie gierig die anwesenden Mädchen beäugten. Da meinte ich plötzlich zwischen den Tanzenden das Geschwisterpaar zu erkennen, das einander eng umschlungen hielt und die Hüften aneinander kreisen ließ.
    Die Bässe wummerten, während ich angestrengt auf die Tanzfläche starrte. Irgendwann gaben die anderen Tanzenden zufällig eine Lücke frei, die Beleuchtung flackerte auf, und es gab keinenZweifel mehr: Es waren die beiden. Und er hatte seine Hand auf ihrem Hintern.
    Meine Verwirrung war komplett.
    »Sag mal«, brüllte ich zu dem Mädchen neben mir hinüber und zeigte entgeistert auf die Tanzfläche, »die sind gar nicht miteinander verwandt, oder?«
    Sie blickte mich verwirrt an und sah aus, als ob ihr nicht klar sei, wen ich überhaupt meinen könnte. Dann erst schien sie zu verstehen, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Wer hat denn gesagt, dass sie verwandt sind?«
    Seit damals weiß ich, dass Verwandtschaftsbezeichnungen in China oft als Anreden verwendet werden, um die Beziehungen zweier Leute auszudrücken: Wie nah steht man sich? Wie ist das Autoritätsgefälle untereinander,

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