The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
haben!
»Very interesting, right?«, fragt die Größere. Sie und ihre Freundin kommen aus dem Umland und gehen hier auf eine Berufsschule, an der sie Englisch lernen. Jetzt haben sie gerade Mittagspause. Ob ich sie nicht in ihrem Unterricht besuchen möchte? Die Pagode sei ja ohnehin wegen Reparaturarbeiten geschlossen.
Eine knappe Stunde später stehe ich in einem Klassenraum vor einer Tafel und spiele Lehrer. Zwanzig Mädchen und zwei Jungen im Oberstufenalter sitzen mir an hölzernen Pulten gegenüber und blicken mich erwartungsvoll an. Wie bin ich hier nur reingeraten , frage ich mich, während ich artig meinen Namen an die Tafel schreibe und mich der Klasse auf Englisch vorstelle.
Dann erzähle ich ein bisschen von meiner Wanderung und stelle auf Englisch ein paar allgemeine Fragen in den Raum, doch als niemand so richtig darauf eingeht und die Lehrerin bereits unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rückt, wechsele ich ins Chinesische. »Hört mal«, höre ich mich sagen, »ihr müsst euch ein bisschen entspannen! Schließlich ist jeder irgendwann mal der Trottel!« Die Klasse macht große Augen. Die Lehrerin guckt entsetzt.
»Was ich sagen wollte, ist: Alle machen Fehler. Das ist absolut nichts Schlimmes, und es gehört sogar dazu, wenn man sich mit einer fremden Kultur beschäftigt.« Ich erzähle eine Anekdote aus meiner Anfangszeit in Beijing, die davon handelt, wie ich einen Kioskbesitzer in umständliche Preisverhandlungen über eine Flasche Cola verwickelte und mich sehr darüber wunderte, dass er so stur auf seinem Anfangsangebot beharrte. Es war Hochsommer, und um uns herum hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, die das Geschehen amüsiert beobachtete. Ich fand den Kioskbesitzer irritierend unchinesisch. »Drei Kuai!« (etwa dreißig Cent), wiederholte er nur immer wieder, während ich gar nicht darauf einging, sondern ihm selbstverständlich zunächst nur einen Bruchteil davon für die Flasche anbot, um die Verhandlungen richtig in Fahrt zu bringen. Man konnte sich ja schließlich später immer noch auf einen vernünftigen Betrag in der Mitte einigen. Oder wie war das mit der berühmten Händlerkultur? Nach einer Weile erbarmte sich schließlich ein anderer Ausländer, legte drei Kuai auf den Tisch, drückte mir die Cola-Flasche in die Hand und zog mich unter dem wiehernden Gelächter der Anwesenden fort.
»Na, das war doch ganz schön peinlich, oder?«, frage ich zum Abschluss.
Die Schüler kichern, einige lachen hinter vorgehaltener Hand. Sogar die Lehrerin lächelt. »Dachtest du wirklich, du müsstest um eine Flasche Cola feilschen?«, ruft ein dickes Mädchen, und als ich nur stumm nicke, prustet die ganze Klasse los.
Es wird eine lustige Stunde. Wir reden auf Chinesisch und Englisch über die Olympischen Spiele, über deutsches und chinesisches Essen, über Kinofilme und Musik. Und wir lachen viel. Als die Pausenglocke den Unterricht beendet, gibt es natürlich ein Gruppenfoto. Die Lehrerin stellt sich neben mich, schüttelt mir lächelnd die Hand und sagt: »Thank you and welcome to China!« Dann ist sie verschwunden, und in mir keimt ein Verdacht auf: Hat sie nur deshalb so wenig von sich gegeben, weil sie sich nicht auf Englisch blamieren wollte?
Draußen warten schon die beiden Mädchen auf mich. Sie haben mir ein günstiges Zimmer in der Nähe gesucht (»a student hotel, very nice!«) und wollen mich unbedingt zum Essen einladen (»you must try the noodles!«). Wir unterhalten uns die meiste Zeit auf Englisch, und den beiden ist anzusehen, wie sehr sie sich über die Übungsmöglichkeit und die neugierigen Blicke der anderen Leute freuen. Beide lachen ungläubig, als ich erzähle, dassich damals mehr oder weniger zufällig an die berühmte Beijinger Filmhochschule gekommen bin.
»Weißt du, wie schwierig es für uns Chinesen ist, überhaupt einen Studienplatz zu bekommen?«, fragen sie und erzählen von den jährlich stattfindenden zentralen Aufnahmeprüfungen, die absolut entsetzlich sein müssen.
Die Größere rümpft die Nase: »Dingzhou ist ein langweiliger Ort zum Studieren. In Beijing oder Shijiazhuang kann man wenigstens richtig einkaufen oder meinetwegen auch noch in Baoding. Aber hier?«
Als ich später in meinem Schlafsack liege und mich an der Wärme erfreue, die von dem Heizungsrohr neben meinem Bett ausgeht, ruft Xiaohei an, um mir zerknirscht mitzuteilen, dass mein Objektiv immer noch nicht repariert wurde. Irgendein Ersatzteil sei bisher nicht aufzutreiben
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