The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)
ist es aufschlussreich, sich den Fall des britischen Gefreiten Ian Thain anzusehen. Dieser wurde wegen des Mordes an einem katholischen Jungen, den er von hinten erschossen hatte, in Nordirland verurteilt, verbüßte aber keine zwei Jahre seiner lebenslänglichen Haftstrafe. Nach seiner Entlassung wurde er wieder in die Armee aufgenommen, rückwirkend für seinen haftbedingten Verdienstausfall bezahlt und durfte auch wieder mit einem Gewehr umgehen – eine tolle Leistung der britischen Justiz! Es gab in der Klatschpresse keinen Aufschrei der Entrüstung darüber, dass er sich nicht entschuldigte, und auch nicht über die Kürze seiner Haft. Niemand fragte ihn nach der Familie seines Opfers ...
Im September 1989 wurde ich schließlich aus der Haft in Nordirland entlassen und begann sofort ein Vollzeitstudium von vier Jahren am Trinity College in Dublin mit dem Ziel, einen Hochschulabschluss in Englisch zu erwerben. Gleichzeitig arbeitete ich als freier Journalist, um mich finanziell über Wasser zu halten.
Im Gefängnis zurück ließ ich nicht nur ehemalige IRA-Freunde, sondern auch neue protestantische Freunde, die früher der paramilitärischen Ulster Defence Association und der Ulster Volunteer Force angehört hatten. In der Haft hatten wir festgestellt, dass wir einander doch ziemlich ähnlich waren. Wir hatten gelernt, einander zu vertrauen und Freunde zu werden – allerdings zu spät für viele unserer Opfer. Seitdem bin ich strikt gegen die Forderung der katholischen und der protestantischen Kirche, Kinder konfessionsgetrennt zu erziehen und sie nie miteinander lernen und spielen zu lassen. Ich habe im Gefängnis viele Katholiken und Protestanten kennengelernt, die das erste Mal auf einen Angehörigen der anderen Konfession trafen, als sie ihn erschossen. Dauernd die Mordtaten auf beiden Seiten zu beklagen, ist äußerst scheinheilig von katholischen und protestantischen Kirchenführern, denn sie selbst sind die Ursache der religiösen Apartheid in den Schulen Nordirlands und hauptverantwortlich für die Spaltung der Gesellschaft. Gefängnisse leisten mit Verspätung genau das für politische und religiöse Gegner, was Schulen schon lange vorher hätten tun sollen, nämlich sie miteinander bekannt zu machen ...
Politik und Politiker in Nordirland haben eine geradezu lebensfeindliche, rückwärtsgewandte Einstellung. Das ermutigt junge Leute natürlich nicht dazu, paramilitärischen Organisationen den Rücken zu kehren, bei denen sie Tatbereitschaft, Abenteuer und jahrzehntealte patriotische Traditionen ebenso wie die Möglichkeit vorfinden, Ereignisse und Bedingungen zu verändern. Wenn junge Leute als einzige Alternative zu paramilitärischen Verbänden eine bankrotte politische Greisenherrschaft sehen, kann man kaum hoffen, dass man sie von vergleichsweise attraktivem traditionellem Gewalthandeln weglocken kann.
Journalisten fragen mich oft: „Und was ist mit Ihren Opfern?“ Dabei steckt hinter dieser Frage nie wirkliches Interesse daran, wie es meinen Opfern geht, denn sonst würden sie sie ja selbst fragen. Vielmehr hoffen sie auf eine ungeschickt formulierte Antwort oder unüberlegte Reaktion von mir, die sie sich zu reißerischen Meldungen oder Schlagzeilen zurechtbiegen können. Als Nächstes kommen dann Fragen wie: „Was glauben Sie, wie es Ihren Opfern ergeht, wenn die hören, dass Sie ein Studium machen / ein Buch schreiben / wieder ein normales Leben führen?“ und so weiter. Woher soll ich das wissen, bin ich Experte für telepathische Diagnose? Wenn ich keine Sorge um das Befinden meiner Opfer hätte, hätte ich mich ja kaum öffentlich und privat bei ihnen entschuldigt.
Selbst wenn ich mir in krankhafter oder größenwahnsinniger Weise einbilden würde, ich selbst sei die Ursache allen Übels, das Nordirland je heimsuchte – es bleibt eine Tatsache, dass die Gespenster der Geschichte und der Politik, die uns verfolgen, jeden Einzelnen in diesem Konflikt winzig erscheinen lassen, sei es ein Soldat, der einen unbewaffneten Katholiken erschießt, oder ein IRA-Volunteer, der in London Briefbomben verschickt. Ich käme ja auch meiner Verantwortung mir selbst und anderen gegenüber nicht nach, wenn ich unter der Last meiner Schuld zusammenbräche und den Rest meines Lebens nur noch von Krankengeld oder Sozialhilfe lebte. Ich sehe alle als Opfer der Situation und mache keinen Unterschied zwischen protestantischen und katholischen, britischen und irischen Opfern. Meiner Ansicht nach ist ein
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