The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)
Überleben betrafen, so zum Beispiel darüber, ob ich Derry verlassen sollte. Es hätte keinen Sinn gehabt, Verwandte oder sonstwelche Älteren um Rat zu fragen, da sie alle keine Erfahrungen mit diesem Konflikt hatten.
Ich traf mich mit meiner damaligen Freundin, einem Mädchen namens Una, und nach dem gemeinsam verbrachten Abend begleitete ich sie auf ihrem Heimweg durch die Duncreggan Street, die an einem Stützpunkt des Ulster Defence Regiments vorbeiführte. Dort war die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet worden, weil verhindert werden sollte, dass sich Heckenschützen die Dunkelheit zunutze machten, um Fahrzeuge bei der Ein- und Ausfahrt aus dem Stützpunkt zu überfallen. Die Straße lag als Folge dieser Maßnahme in völliger Finsternis. Als Una und ich den Gehweg entlangliefen, hielten auf der anderen Straßenseite zwei Jeeps an, und Soldaten mit Taschenlampen kamen auf uns zu. Einer war der Offizier, der mich zuvor angehalten hatte, und er leuchtete mir mit seiner Taschenlampe ins Gesicht.
„Wir werden dich gleich noch auf deinem Heimweg treffen, du Bastard!“ Er und seine Leibwachen setzten sich wieder in die Jeeps und fuhren los. Mein Rückweg musste durch die Northland Road führen, denn die andere Möglichkeit wäre nur noch die Strand Road gewesen, wo ich zusammengeschlagen worden war.
Una, die weit weg von den riskanten Stadtvierteln in der Culmore Road wohnte, hatte keinerlei Erfahrung mit Straßenüberfällen. Sie war sehr verängstigt von den Drohungen, die sie in völliger Dunkelheit und ohne Anwesenheit von Zeugen mitbekommen hatte. Ich versuchte natürlich, sie zu beruhigen, indem ich die Konfrontation als nicht wirklich ernstgemeint darstellte, und begleitete sie bis zu ihrem Haus. Danach kam mir allerdings die volle Bedeutung der Drohung des Offiziers zu Bewusstsein, und ich rief meinen Freund Eamonn an, um ihm davon zu erzählen. Eamonn lieh sich sofort das Auto seines Vaters und holte mich ab.
Die Armee wusste, wo ich wohnte, und das machte mich jederzeit auffindbar, ganz gleich ob ich hinausging oder zurückkam. Sie kannten die Fixpunkte meines Alltags, nämlich meine Schule und meine Freundin. Im Moment reagierten sie auf meinen Leserbrief, aber ihre Warnungen an mich waren bitterer Ernst, und wenn ich sie nicht beachtete, konnte das tödliche Folgen haben. Genau wie damals am Bloody Sunday hatte ich das Gefühl, ich könnte ohne jeglichen Anlass erschossen werden, und da wäre es doch lohnender, für den größtmöglichen Schaden, den ich der britischen Armee nur irgend zufügen konnte, erschossen zu werden. Also entschied ich mich für Letzteres. Im Grunde blieb mir nur noch, mein Elternhaus und Derry zu verlassen, aber die Aussicht widerstrebte mir sehr. Deshalb wollte ich den IRA-Kommandeur um Rat fragen, der sich zu dem Zeitpunkt ein paar Meilen jenseits der nordirischen Grenze in Donegal aufhielt. Allerdings stammte dieser nicht aus Derry, sondern war aus Belfast hierhin beordert worden, um die Reaktion der IRA auf die „Operation Motorman“ zu organisieren. Er wusste rein gar nichts über mich, vor ihm türmten sich mehr Schwierigkeiten auf, als ich mir vorstellen konnte, und so hielt er meine stockend vorgetragenen Hinweise auf die verbalen Schikane-Androhungen der Armee für eine eher geringfügige Angelegenheit, die der Teenager, der vor ihm stand, womöglich reichlich übertrieben darstellte. Sein Rat war dann, ich sollte am besten selbst entscheiden, was ich zu tun hätte, da ich meine eigene Situation am besten einschätzen konnte.
Grundsätzlich beschloss ich, Derry zu verlassen und nach Dublin zu fahren, wo ich bei den beiden Freunden unterkommen konnte, die mich zwei Jahre zuvor gefragt hatten, ob ich der Provisional IRA beitreten wollte. Meinen Eltern wollte ich von den Drohungen der Armee nichts erzählen, nicht zuletzt deswegen, weil meine Familie ebenfalls zur Zielscheibe geworden wäre, wenn meine Eltern sich bei der Armee beschwert hätten. Ich war also entschlossen, wegzugehen, aber ich dachte, wenn ich noch ein kleines bisschen länger wartete, würde sich vielleicht eine ungeahnte Lösung finden.
Zwar schaffte ich es am folgenden Tag, zur Schule und wieder zurück zu kommen, ohne dass die Soldaten mir irgendwelche Beachtung schenkten, aber als ich unseren Hauseingang erreichte, stand ein Erwachsener aus der Nachbarschaft da, der Protestant und, soviel ich wusste, auch zeitweise Freiwilliger im Ulster Defence Regiment war. Er fragte mich nach meinem
Weitere Kostenlose Bücher