Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
Schritte entfernten. Ein paar Minuten später bewegte sich quietschend die Türklinke, gefolgt von einem Klopfen.
„Ell? Warum hast du abgesperrt?“, vernahm ich Pollys verwirrte Stimme und ihrer Ahnungslosigkeit entnahm ich, dass sie von meinem Streit mit Atalante nichts wusste.
Ich öffnete den Mund, stellte jedoch fest, dass ich nichts herausbrachte.
„Alles in Ordnung?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Bist du überhaupt da drin?“
Meine Fingernägel gruben sich tief in meine Handflächen, als ich die Fäuste ballte. Ich atmete durch, ging langsam zur Tür und schloss auf. Danach nahm ich sofort wieder meinen Posten am Fenster ein. Meine Schwester trat zögernd ein und verschloss die Tür wieder.
Danke, dachte ich, weil ich immer noch nicht sprechen konnte. Polly war nicht komisch. Aber auch ihre Gegenwart fühlte sich auf einmal fremd an. Sie trat neben mich und sah mich an, doch ich hatte meinen Blick starr auf eine der Fackeln gerichtet, die den nebligen Hof beleuchteten.
„Was ist los?“
Nichts.
„Bist du traurig?“
Auch.
„Vermisst du deinen Vater?“
„Es ist unser Vater, verdammt noch mal“, fuhr ich sie aufgebracht an und sah sie erschrocken zurückweichen. Mit einem Ruck wandte ich mich ab, schnappte mir meine Duschutensilien und eilte aus dem Raum, ohne auf Pollys besorgte Fragen einzugehen. Erst, als mir heißes Wasser auf den Kopf prasselte und über das Gesicht und den Rücken lief, kamen die Tränen. Anfangs wollte ich sie zurückdrängen, aber dann dachte ich mir: Amazonen weinen nicht. Aber ich weine. Und ich will weinen.
Der Essensgong schallte herauf, während ich unter der Dusche meinen Tränen freien Lauf ließ, und als ich ins Zimmer zurückkehrte, fand ich es leer vor. Widerwillig zog ich mir das Nachthemd an, das mir nicht gehörte, und schlüpfte in das Bett, das sich nicht wie meines anfühlte. Ich rollte mich ganz klein am unteren Rand zusammen, sodass ich möglichst wenig fremde Fläche berührte. Irgendwann kehrte Polly zurück, aber ich stellte mich tot.
Am Morgen darauf erwachte ich mit einem Gefühl der Verwirrung. Die Worte meiner Mutter stachen noch in meinem Herzen, aber sie weckten auch meinen Widerspruchsgeist. Ich wollte mich nicht umkrempeln lassen, aber ich wollte auch nicht aufgeben.
Immerhin konnte ich wieder sprechen, wie ich feststellte, also entschuldigte ich mich bei meiner Schwester.
„Was war denn gestern los?“, erkundigte sie sich, aber ich zuckte nur mit den Schultern und zwang mich zu einem Lächeln. Ich würde es ihr nicht erklären können und sie würde mich nicht verstehen, so begeistert, wie sie von allem war, was mit Kämpfen, Schlachten, Jagden und Blutvergießen allgemein zu tun hatte.
Um meiner Mutter nicht zu begegnen, ließ ich das Frühstück ausfallen und ging direkt in die Trainingshalle, um mich auf meinen Taekwondo-Unterricht vorzubereiten. Offenbar nicht gut genug – das Training wurde ein Desaster.
Die Fußkräftige Tianyu, meine ohnehin sehr strenge Taekwondo-Lehrerin, machte mich komplett zur Schnecke. Ihre Kraft beschränkte sie keineswegs auf ihre Füße, die Stärke ihrer Faust- und Handkantenschläge war genauso wenig zu unterschätzen. Sie schien generell zu hundert Prozent aus Kraft zu bestehen und war dabei biegsam wie ein Bambusrohr, so als hätte sie keinen Knochen im Leib. Sie trug einen langen dunklen Zopf, der durch die Luft wirbelte, wenn sie mir die Übungen zeigte, war klein, drahtig und unerbittlich. Das war an sich okay, denn wenn man einen Erfolg erzielte, freute man sich über ihr Lob umso mehr. Aber an Lob war an diesem Vormittag überhaupt nicht zu denken. Sie putzte mich herunter, weil sie der Meinung war, dass ich die Begriffe nicht gelernt hatte, die sie mir in der Stunde zuvor beigebracht hatte. Ich hatte sie zwar gelernt, aber ich war unkonzentriert, weil mich noch der Streit mit Atalante beschäftigte.
Abgesehen davon schien ich heute nichts richtig machen zu können. Schon bei der Atmung versagte ich – etwas, von dem ich bislang immer gedacht hatte, ich könne es –, von den bewussten Bewegungsabläufen ganz zu schweigen. Ich bemühte mich wirklich, aber was ich machte, machte ich falsch.
„Achte auf deine Haltung! Das soll Körperspannung sein? Ein Glas Milch hat mehr davon als du! Wurde dir denn in der Stadt überhaupt nichts beigebracht? Konzentrier dich! Wie willst du jemals eine anständige Amazone werden, wenn du schon bei den leichtesten Übungen versagst!“ So und so
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