Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
ins Restaurant gingen, aßen sie um sieben. Wenn sie in Urlaub fuhren, aßen sie um sieben. Wenn sie Freunde besuchten, konnten sie schlecht die Zeit bestimmen, aber da alle Welt wusste, wie wichtig den Boones diese Uhrzeit war, wurde normalerweise auch dort um sieben gegessen. Wenn Theo einmal bei einem Freund blieb, zelten ging oder aus einem anderen Grund nicht zu Hause war, genoss er es sehr, vor oder nach sieben Uhr zu Abend zu essen.
Fünf Minuten später stellte er sein Rad am Ständer vor dem Gericht ab und schloss es mit der Kette an. Das Familiengericht war im zweiten Stock, neben dem Nachlassgericht und auf demselben Gang wie das Strafgericht. In dem Gebäude waren noch viele andere Abteilungen untergebracht: Verkehrsgericht, Zivilgericht, Insolvenzgericht, Vormundschaftsgericht, Tiergericht und vermutlich noch ein oder zwei andere, die Theo bisher nicht entdeckt hatte.
Er hatte gehofft, April zu begegnen, aber sie war nicht da. Der Sitzungssaal war verlassen, in den Gängen herrschte gähnende Leere.
Er öffnete die Glastür zur Geschäftsstelle und trat ein. Jenny, die Schöne, wartete schon.
» Hallo, Theo«, begrüßte sie ihn mit strahlendem Lächeln, als sie von ihrem Computer hinter der langen Theke aufsah.
» Hallo, Jenny«, sagte er. Sie war sehr hübsch und jung, und Theo war in sie verliebt. Er hätte Jenny vom Fleck weg geheiratet, aber sein Alter und ihr Ehemann stellten ein gewisses Hindernis dar. Außerdem war sie schwanger, was ihn ein wenig störte, obwohl er das lieber für sich behielt.
» Das ist von meiner Mutter.« Damit übergab er die Dokumente.
Jenny nahm sie entgegen und studierte sie einen Augenblick lang. » O je, noch mehr Scheidungen«, sagte sie dann.
Theo hing an ihren Lippen.
» Gehst du morgen zur Verhandlung?«, fragte er schließlich.
» Wenn ich hier wegkomme, schaue ich vielleicht vorbei. Und du?«
» Ja. Ich kann es gar nicht erwarten.«
» Wird bestimmt interessant.«
Theo beugte sich vor. » Glaubst du, er ist schuldig?«
Jenny beugte sich ebenfalls vor und warf einen Blick über die Schulter, als hätten sie wichtige Geheimnisse zu besprechen. » Und ob. Was ist mit dir?«
» Na ja, er muss als unschuldig gelten.«
» Du treibst dich zu viel in der Kanzlei herum, Theo. Ich wollte wissen, was du denkst, ganz inoffiziell natürlich.«
» Ich glaube, er ist schuldig.«
» Wir werden ja sehen.« Sie lächelte flüchtig und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
» Jenny, kannst du mir sagen, ob die Verhandlung von heute Morgen, die Finnemore-Sache, zu Ende ist?«
Sie sah sich argwöhnisch um. Offenbar wollte sie sich zu einem laufenden Verfahren nicht äußern. » Richter Sanford hat die Verhandlung um 16.00 Uhr auf morgen früh vertagt.«
» Warst du im Sitzungssaal?«
» Nein. Warum fragst du, Theo?«
» Ich gehe mit April Finnemore zur Schule. Ihre Eltern lassen sich scheiden. Reine Neugier.«
» Verstehe«, sagte sie traurig.
Theo ließ sie immer noch nicht aus den Augen.
» Bis dann, Theo.«
Der Sitzungssaal ein paar Türen weiter war abgeschlossen. Ein unbewaffneter Gerichtsdiener in einer zu engen, verblichenen Uniform stand neben dem Haupteingang. Theo kannte alle Gerichtsdiener. Der hier, ein gewisser Mr. Gossett, gehörte zu den unfreundlicheren. Mr. Boone hatte ihm erklärt, dass Gerichtsdiener normalerweise ältere, nicht mehr ganz so flinke Polizisten waren, die am Ende ihrer Laufbahn standen. Sie bekamen einen neuen Titel und wurden ans Gericht versetzt, wo es weniger aufregend und gefährlich zuging als auf der Straße.
» Hallo, Theo«, sagte Mr. Gossett, ohne eine Miene zu verziehen.
» Hallo, Mr. Gossett.«
» Was führt dich her?«
» Ich habe nur was für meine Eltern abgegeben.«
» Das ist alles?«
» Ja, Mr. Gossett.«
» Du willst nicht vielleicht herausfinden, ob der Sitzungssaal für den großen Prozess vorbereitet ist?«
» Das auch.«
» Hab ich’s mir doch gedacht. Heute war einiges los. Eine Fernsehcrew ist gerade erst weggefahren. Wird bestimmt interessant.«
» Haben Sie morgen Dienst?«
» Natürlich habe ich morgen Dienst«, erwiderte Mr. Gossett mit stolzgeschwellter Brust, als könnte die Verhandlung ohne ihn nicht stattfinden. » Es wird strenge Sicherheitskontrollen geben.«
» Warum?«, fragte Theo, obwohl er es genau wusste. Mr. Gossett hielt sich für einen Rechtsexperten. Als ob die bloße Anwesenheit bei Verhandlungen und Anhörungen reichen würde, um sich auszukennen! Tatsächlich döste
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