Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
Mr. Gossett oft vor sich hin. Und wie viele Menschen, die nicht so viel wissen, wie sie glauben, ließ Mr. Gossett seine weniger glücklichen Mitmenschen gern an seinen Erkenntnissen teilhaben.
Er sah auf die Uhr, als hätte er ein volles Programm. » Das ist ein großer Mordprozess«, sagte er mit wichtiger Miene.
Ach, echt?, dachte Theo.
» Und Mordprozesse ziehen Menschen an, die gefährlich werden könnten.«
» Wen denn zum Beispiel?«
» Sagen wir es mal so, Theo: Bei jedem Mord gibt es ein Opfer, und das Opfer hat Freunde und Angehörige. Diese Leute sind natürlich wütend, weil das Opfer ermordet wurde. Kannst du mir folgen?«
» Natürlich.«
» Und dann gibt es einen Angeklagten. In diesem Fall ist das Mr. Duffy, der sich nicht schuldig bekennt. Das behaupten sie natürlich alle, aber nehmen wir einmal an, es stimmt. Wenn das der Fall ist, ist der wahre Mörder noch auf freiem Fuß. Vielleicht will er wissen, was in dem Prozess vor sich geht.« Mr. Gossett sah sich argwöhnisch um. Vielleicht hatte er Angst, der Mörder könnte ihn hören und sauer werden.
Theo lagen einige Fragen auf der Zunge. Wieso stellt der wahre Mörder eine Gefahr dar? Was sollte der in der Verhandlung schon anstellen? Noch jemanden umbringen? Vor den Augen des Gerichts? Vor Dutzenden von Zeugen?
» Verstehe«, sagte er stattdessen. » Da müssen Sie natürlich gut aufpassen.«
» Wir müssen alles unter Kontrolle halten.«
» Bis morgen dann.«
» Kommst du auch?«
» Ganz bestimmt.«
Mr. Gossett schüttelte den Kopf. » Daraus wird wohl nichts, Theo. Der Saal wird überfüllt sein. Da bekommst du keinen Platz mehr.«
» Ich habe heute Morgen mit Richter Gantry gesprochen. Er hat versprochen, mir gute Plätze zu reservieren.«
Damit wandte Theo sich zum Gehen.
Mr. Gossett hatte es die Sprache verschlagen.
Ike war Theos Onkel, der ältere Bruder von Woods Boone. Als Theo noch gar nicht geboren war, hatte Ike zusammen mit Theos Eltern die Kanzlei Boone & Boone gegründet. Er war Steueranwalt gewesen, von denen es in der Stadt nicht viele gab. Den spärlichen Informationen zufolge, die Theo zu diesem Thema in Erfahrung bringen konnte, hatten die drei Anwälte friedlich und erfolgreich zusammengearbeitet, bis Ike etwas Schlimmes tat. Etwas ganz Übles. So schlimm, dass er seine Zulassung als Anwalt verlor. Theo hatte seine Eltern mehrfach gefragt, was sich Ike konkret hatte zuschulden kommen lassen, aber die wollten ihm keine Einzelheiten verraten. Entweder wollten sie nicht darüber reden oder sie versprachen, es ihm zu erklären, wenn er älter war.
Ike befasste sich immer noch mit Steuersachen, aber nur auf untergeordneter Ebene. Da er weder Anwalt noch Steuerberater war, sich aber irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen musste, half er Arbeitnehmern und Kleinunternehmern bei ihren Steuererklärungen. Sein Büro befand sich im ersten Stock eines alten Gebäudes in der Innenstadt. Im Erdgeschoss führte ein griechisches Ehepaar einen Lebensmittelladen mit Imbiss. Ike erledigte für sie die Steuern und bekam dafür fünfmal pro Woche ein kostenloses Mittagessen.
Seine Frau hatte sich scheiden lassen, als er seine Zulassung verlor. Er war einsam und nicht besonders umgänglich. Theo fand die montäglichen Besuche nicht gerade angenehm. Aber Ike gehörte zur Familie, und das allein zählte, behaupteten zumindest Theos Eltern, die selbst jedoch kaum Zeit mit Ike verbrachten.
» Hallo, Theo«, rief Ike, als Theo die Tür zu dem langen, vollgestopften Raum öffnete und eintrat.
» Hallo, Ike.« Obwohl er älter war als Theos Vater, bestand Ike darauf, nur mit dem Vornamen angeredet zu werden. Wie Elsa fühlte er sich dann jünger. Er trug ausgeblichene Jeans, Sandalen, ein T-Shirt mit Bierwerbung und verschiedene Perlenarmbänder am linken Handgelenk. Sein langes, weißes Haar war ungepflegt und im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Er saß an seinem Schreibtisch, einer breiten Platte, auf der sich die Akten stapelten. Aus der Stereoanlage drang leise ein Lied von Grateful Dead. Billige grelle Bilder bedeckten die Wände.
Mrs. Boone zufolge war Ike der typische steife Unternehmenssteueranwalt im dunklen Anzug gewesen, bevor er in Schwierigkeiten geriet. Jetzt sah er sich als alten Hippie, der gegen alles war. Ein echter Rebell.
» Wie geht’s meinem Lieblingsneffen?«, fragte er, als Theo sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch setzte.
» Bestens.« Theo war sein einziger Neffe. » Wie war dein
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