Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
Tag?«
Ike deutete auf das Chaos auf seinem Schreibtisch. » Wie üblich. Ich löse die Geldprobleme von Leuten, die kein Geld haben. Wie geht’s bei Boone& Boone?«
» Wie immer.« Obwohl sein Büro nur vierhundert Meter von der Kanzlei entfernt war, sah Ike Theos Eltern nur selten. Sie waren nicht zerstritten, aber die Vergangenheit war nicht vergessen.
» Wie läuft’s in der Schule?«
» Gut.«
» Nur Einsen?«
» Ja. Vielleicht eine Eins minus in Chemie.«
» Von dir hätte ich eine glatte Eins erwartet.«
Nicht nur du, dachte Theo. Er hatte keine Ahnung, wieso sich Ike ein Urteil über Theos Noten erlaubte, aber vielleicht durfte er das als Onkel. Seine Eltern hatten ihm erzählt, Ike sei ein Genie. Für das College hatte er angeblich nur drei Jahre gebraucht.
» Wie geht’s deiner Mutter?«
» Bestens. Immer bei der Arbeit.«
Nach Mr. Boone fragte Ike nie.
» Du bist wahrscheinlich ganz schön gespannt auf die Verhandlung morgen.«
» Ja. Meine Sozialkundeklasse macht eine Exkursion zum Gericht. Wir werden den ganzen Tag da sein. Kommst du auch?«, fragte Theo, obwohl er die Antwort kannte.
Ike schnaubte verächtlich. » Ich doch nicht. Ich betrete freiwillig keinen Gerichtssaal. Außerdem habe ich zu viel Arbeit.« Typisch Boone.
» Ich kann es kaum erwarten«, sagte Theo.
» Willst du immer noch ein großer Prozessanwalt werden?«
» Was ist daran falsch?«
» Vermutlich gar nichts.« Das Gespräch wiederholte sich jede Woche. Ike wollte, dass Theo Architekt oder Künstler wurde, etwas Kreatives eben. » Die meisten Kinder wollen Polizist, Feuerwehrmann, ein berühmter Sportler oder Schauspieler werden. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand besessen davon ist, Anwalt zu werden.«
» Jeder muss irgendwas machen.«
» Da hast du wohl recht. Der Verteidiger, dieser Clifford Nance, ist sehr gut. Hast du ihn je bei der Arbeit gesehen?«
» Nicht in einem wichtigen Prozess. Ich habe ihn Anträge stellen sehen, aber nicht in einer Hauptverhandlung.«
» Ich kannte Clifford mal sehr gut. Ist schon lange her. Ich wette, er gewinnt.«
» Glaubst du wirklich?«
» Natürlich. Soweit ich gehört habe, steht die Anklage auf wackligen Füßen.« Obwohl er nicht viel unter Leute ging, wusste Ike immer, welche Gerüchte am Gericht in Umlauf waren. Theos Vater hatte den Verdacht, dass er seine Informationen aus den allwöchentlichen Pokerspielen mit einer Gruppe pensionierter Juristen bezog.
» Es gibt eigentlich keinen Beweis dafür, dass Mr. Duffy seine Frau getötet hat«, erklärte Ike. » Die Anklage kann höchstens ein starkes Motiv nachweisen und ihn verdächtig aussehen lassen, aber das ist auch schon alles.«
» Was ist denn das Motiv?«, fragte Theo, obwohl er die Antwort kannte. Er wollte sehen, wie viel Ike wusste– oder zu erzählen bereit war.
» Geld. Eine Million Dollar. Mr. Duffy hat vor zwei Jahren eine Lebensversicherung über eine Million Dollar für seine Frau abgeschlossen. Bei ihrem Tod geht das Geld an ihn. Sein Geschäft steckte in Schwierigkeiten. Er brauchte Bares; deswegen wird angenommen, dass er die Sache buchstäblich selbst in die Hand genommen hat.«
» Er hat sie erdrosselt?« Theo hatte jeden einzelnen Zeitungsartikel über den Fall gelesen und kannte die Todesursache.
» So lautet die Hypothese. Sie ist stranguliert worden. Die Anklage wird behaupten, Mr. Duffy habe sie erdrosselt und dann das Haus verwüstet und ihren Schmuck an sich genommen, damit es so aussieht, als hätte sie einen Einbrecher überrascht.«
» Und was will Mr. Nance beweisen?«
» Der muss gar nichts beweisen, aber er wird damit argumentieren, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass Mr. Duffy am Tatort war. Meines Wissens nach gibt es keine Zeugen, die ihn dort gesehen haben. Für die Staatsanwaltschaft ist das eine harte Nuss.«
» Glaubst du, er ist schuldig?«
Ike ließ mindestens acht Knöchel knacken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
» Wahrscheinlich«, meinte er, nachdem er einen Augenblick lang überlegt hatte. » Ich wette, Duffy hat alles sorgfältig geplant, und es ist exakt nach Wunsch gelaufen. Diese Leute da draußen tun merkwürdige Dinge.«
Diese Leute waren die Einwohner von Waverly Creek, einer Luxussiedlung, die um einen 27-Loch-Golfplatz herum angelegt und durch Absperrungen gesichert war. Dort lebten die neu Zugezogenen, während die Alteingesessenen in der eigentlichen Stadt wohnten und sich für die wahren Bürger Strattenburgs hielten. Der Satz
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