Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
ihn später zusammen mit deiner Mutter abholen.«
» Wieso kann ich ihn nicht gleich im Gericht mitnehmen?«, fragte sie.
Theo war oft verblüfft, was für dumme Fragen seine Freunde stellten. Das sogenannte Tiergericht war in der Hierarchie ganz unten angesiedelt. Sein Spitzname war » Karnickelgericht«, und es wurde vom Rechtssystem wie ein ungeliebtes Stiefkind behandelt. Der Richter war ein Jurist, den keine Anwaltskanzlei in der Stadt mehr haben wollte. Er trug Bluejeans und Springerstiefel und schämte sich für seinen miesen Job. Die Vorschriften gestatteten es jeder Person, deren Tier in Schwierigkeiten war, ohne Anwalt zu erscheinen und sich selbst zu vertreten. Die meisten Anwälte machten einen Bogen um das Karnickelgericht, weil es ihnen weit unter ihrer Würde erschien. Der Sitzungssaal war im Keller des Gerichts untergebracht, weit weg von den großen Prozessen.
Was stellte sich Hallie eigentlich vor? Sollte die Polizei jeden Nachmittag Hunde und Katzen aneinanderketten, ihnen einen Maulkorb verpassen und sie vor Gericht zerren, um sie ihren Haltern zu übergeben? In Strafprozessen wurden die Beschuldigten in einer Arrestzelle untergebracht, bis sie dem Richter vorgeführt wurden, aber das galt nicht für Haustiere.
Theo verkniff sich eine dementsprechende Bemerkung und lächelte Hallie an, die jetzt noch hübscher aussah. » Tut mir leid, Hallie, aber so läuft das nicht. Du wirst sehen, heute Abend ist Rocky wieder zu Hause.«
» Danke, Theo. Du bist der Beste!«
An einem normalen Tag hätte Theo stundenlang von diesen Worten gezehrt, aber es war kein normaler Tag. Er war zu sehr mit dem Duffy-Prozess beschäftigt. Ike war im Gericht, wo Theo ihn am Nachmittag per SMS kontaktierte.
Bist du da? Bitte Update, schrieb Theo.
Auf der Galerie, antwortete Ike. Rappelvoll. Vorbringen der Anklage um 14 h vorläufig abgeschlossen. Gute Arbeit. Hat Scheidungsgerüchte und alte Golfkumpel ins Spiel gebracht.
Theo: Reichen die Beweise?
Ike: Keine Chance. Gibt einen Freispruch. Außer …
Theo: Hast du einen Plan?
Ike: Arbeite noch dran. Kommst du her?
Theo: Vielleicht. Was geht?
Ike: Erster Zeuge der Verteidigung. Geschäftspartner von Duffy. Langweilig.
Theo: Muss los. Chemie. Bis später.
Ike: Nur 1 in Chemie. OK ?
Theo: Geht klar.
Obwohl die juristische Welt von Strattenburg nicht viel vom Tiergericht hielt, ging es dort selten langweilig zu. Die laufende Sache betraf eine Boa constrictor namens Hermann, die offenbar einen großen Freiheitsdrang besaß. Hermanns Ausflüge wären kein Problem gewesen, wenn sein Besitzer irgendwo draußen in einer ländlicheren Umgebung gelebt hätte. Stattdessen wohnte der dreißigjährige Punker mit dem Tattoo, das sich den Hals emporschlängelte, in einem engen Wohnblock in einem bescheidenen Viertel der Stadt. Ein Nachbar hatte zu seinem Entsetzen eines Morgens, als er sich seinen Haferbrei machen wollte, Hermann auf seinem Küchenboden gefunden.
Der Nachbar war empört. Hermanns Besitzer war aufgebracht. Die Atmosphäre war angespannt. Theo und Hallie saßen als einzige Zuschauer in dem winzigen Sitzungsraum auf Klappstühlen. Die Bibliothek von Boone & Boone war größer und sehr viel schöner.
Hermann war als Anschauungsobjekt im Raum. Er steckte in einem großen Drahtkäfig, der auf einer Ecke des Richtertischs thronte, nicht weit von Richter Yeck, der ihn argwöhnisch beäugte. Die einzige andere Amtsträgerin im Raum war eine ältliche Justizangestellte, die seit Jahren am Gericht tätig war und als griesgrämige alte Schachtel galt. Offenbar wollte sie mit Hermann nichts zu tun haben, denn sie hatte sich in die hinterste Ecke zurückgezogen und wirkte ziemlich verängstigt.
» Wie würde Ihnen das gefallen, Richter Yeck?«, fragte der Nachbar. » Mit solch einer Kreatur im selben Haus zu leben und zu wissen, dass sie jederzeit über Ihr Bett kriechen kann, während Sie schlafen?«
» Er ist harmlos«, behauptete der Besitzer. » Er beißt nicht.«
» Harmlos? Und wenn jemand einen Herzanfall bekommt? Das ist nicht in Ordnung, Euer Ehren. Sie müssen uns schützen.«
» Harmlos aussehen tut er nicht«, stellte Richter Yeck fest. Die Blicke richteten sich auf Hermann, der sich im Käfig um einen künstlichen Ast geschlungen hatte und sich nicht rührte. Er schien zu schlafen und war sich der Bedeutung der Ereignisse offenbar nicht bewusst.
» Ist er für eine Rotschwanzboa nicht ziemlich groß?«, fragte der Richter, als hätte er ständig mit
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