Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
gesucht, die er bisher nicht gefunden hatte. Er war hin- und hergerissen. Warum sollte er einen vorschriftsgemäßen Prozess unterbrechen? Warum sollte er den Prozess für fehlerhaft erklären, wenn alles seine Ordnung hatte? Es gab keinen Regelverstoß. Keine Verletzung ethischer Grundsätze. Nichts. Da der Staatsanwalt ebenso kompetent war wie der Verteidiger, war die Verhandlung sogar besonders glattgelaufen.
Bei seinen Recherchen war er auf keinen vergleichbaren Fall gestoßen.
In der Kanzlei Boone & Boone brannte Licht. Wie versprochen trat Richter Gantry um 19 . 30 Uhr auf die kleine Veranda und klopfte an die Tür.
Marcella Boone öffnete. » Guten Abend, Henry. Komm rein.«
» Guten Abend, Marcella. In der Kanzlei war ich bestimmt seit zwanzig Jahren nicht mehr.«
» Dann wird es aber Zeit.« Damit schloss sie die Tür hinter ihm.
Richter Gantry war nicht der Einzige, der am frühen Abend einen flotten Spaziergang unternahm. Ein Mann namens Paco war ebenfalls unterwegs. Paco trug einen dunklen Jogginganzug und Laufschuhe und hatte ein Funkgerät. Er hielt sich in sicherem Abstand, und da dem Richter gar nicht der Gedanke kam, er könnte beschattet werden, war er leicht zu verfolgen. So wanderten sie durch die Innenstadt von Strattenburg: der eine Mann so tief in ernste Gedanken versunken, dass er seine Umgebung gar nicht wahrnahm, und der andere, der ihn nicht aus den Augen ließ, hundert Meter hinter ihm, während die Schatten länger wurden und es schließlich dämmerte.
Als Henry Gantry nach Einbruch der Dunkelheit die Kanzlei Boone & Boone betrat, joggte Paco an dem Gebäude vorbei, schrieb sich Namen und Hausnummer auf und lief weiter, bis er um die nächste Ecke war. Dann drückte er einen Knopf an seinem Funkgerät. » Er ist drinnen, bei den Boones.«
» Okay. Ich bin ganz in der Nähe.« Das war Omar Cheepe.
Wenige Augenblicke später sammelte Cheepe Paco auf, und sie bogen in die Park Street ein. Sie passierten das Gebäude, in dem sich die Kanzlei befand, und parkten unauffällig ein ganzes Stück weiter. Cheepe schaltete das Licht aus, stellte den Motor ab und öffnete das Fenster, um eine Zigarette zu rauchen. » Hast du ihn reingehen sehen?«
» Nein«, erwiderte Paco. » Aber ich habe gesehen, wie er auf das Grundstück eingebogen ist. Er muss da drin sein. Ansonsten ist hier alles dicht.«
» Sehr merkwürdig.«
Es war Sonntagabend, und die anderen Bürogebäude waren dunkel und verlassen. Nur in der Kanzlei der Boones regte sich Leben. Im Erdgeschoss schienen sämtliche Lichter zu brennen.
» Was die wohl machen?«, fragte Paco.
» Weiß ich auch nicht so genau. Die Boones waren am Freitag bei Gantry im Büro, die ganze Familie, was extrem merkwürdig ist, weil er so viel zu tun hatte. Die beiden sind nicht auf Strafrecht spezialisiert. Er setzt Verträge auf, und sie befasst sich mit Scheidungen, die haben also keinen Grund, mitten in einem Mordprozess in Gantrys Büro zu platzen. Und das mit dem Jungen verstehe ich gleich gar nicht. Wieso nehmen die Eltern das Kind aus der Schule und gehen mit ihm zu Gantry? Der Bursche hat sich die ganze Woche in der Verhandlung rumgetrieben und im Gericht herumgeschnüffelt.«
» Du meinst diesen Theo?«
» Ja. Der Junge hält sich für einen Juristen. Kennt jeden Polizisten, Richter und Justizangestellten. Hängt ständig in Verhandlungen herum, versteht wahrscheinlich mehr von Recht als die meisten Anwälte. Er und Gantry sind dicke Freunde. Da geht der mit seinen Eltern zu Gantry, und plötzlich beschließt der Richter, am Samstag nicht verhandeln zu lassen, obwohl er das die ganze Woche über angekündigt hat. Da läuft irgendwas, Paco. Und zwar nicht zu unseren Gunsten.«
» Hast du mit Nance und Mr. Duffy geredet?«
» Nein, noch nicht. Ich sage dir, was wir tun werden. Am liebsten würde ich dich hinschicken, damit du das Haus aus der Nähe erkundest und herausfindest, wer alles da ist, aber das ist zu riskant. Wenn sie dich sehen, werden sie misstrauisch, brechen die Aktion ab und rufen vielleicht sogar die Polizei. Immerhin ist Richter Gantry dabei. Das könnte die Dinge verkomplizieren. Ich habe einen besseren Plan. Ich rufe Gus an, der soll uns den Van bringen. Den können wir in der Nähe des Hauses parken. Wenn sie rauskommen, machen wir Fotos. Ich will wissen, wer da drin ist.«
» Auf wen tippst du denn?«
» Keine Ahnung, Paco, aber ich wette, die Boones und Gantry haben sich nicht zum Kartenspielen getroffen. Da läuft
Weitere Kostenlose Bücher