Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
entstanden.
Theo hatte sich die Aufnahme auf der Website der Gerichtsschreiber besorgt. Falls Richter Gantry ihn fragte, woher er es hatte, wollte er ihn darauf hinweisen, dass es in einer öffentlichen Verhandlung als Beweismittel vorgelegt worden war und folglich kaum als geheim gelten konnte.
Aber Richter Gantry sagte nichts. Er hatte das Foto hundertmal gesehen und blieb völlig unbeeindruckt. Bobby dagegen bekam die Aufnahme zum ersten Mal zu Gesicht und fing sofort an, aufgeregt auf Julio einzureden.
» Das ist er!« Julio zeigte selbst mit dem Finger. » Der Mann im Cart. Das ist er!«
» Euer Ehren, ich gebe zu Protokoll, dass der Zeuge soeben den Angeklagten Pete Duffy identifiziert hat.«
» Volltreffer, Theo«, sagte Gantry.
Zweiundzwanzig
Am Montagmorgen versammelten sich die Zuschauer zum letzten Akt des Dramas. Die Geschworenen trafen mit feierlicher Miene ein und waren offenbar fest entschlossen, ihren Auftrag zu Ende zu führen. Die Vertreter von Staatsanwaltschaft und Verteidigung trugen ihre feinsten Anzüge und schienen darauf zu brennen, endlich den Spruch der Geschworenen zu hören. Der Angeklagte selbst wirkte ausgeruht und zuversichtlich. Justizangestellte und Gerichtsdiener wuselten mit der üblichen morgendlichen Energie im Saal umher. Doch als alle um zehn nach neun auf ihren Plätzen saßen, schien der ganze Saal erwartungsvoll die Luft anzuhalten. Alle erhoben sich, als Richter Gantry mit wehender Robe in den Saal rauschte.
» Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er ohne ein Lächeln. Er war unzufrieden und wirkte sehr müde.
Er sah sich im Sitzungssaal um, nickte der Gerichtsschreiberin zu, nahm die Geschworenen zur Kenntnis, warf einen Blick in die Menge und vor allem in die dritte Reihe rechts. Dort saß Theo Boone zwischen seinem Vater und seinem Onkel und schwänzte, zumindest für den Augenblick, die Schule. Richter Gantry sah Theo an, und ihre Blicke begegneten sich. Dann beugte sich der Richter ein paar Zentimeter tiefer über das Mikrofon. Er räusperte sich und sprach die Worte, mit denen keiner gerechnet hatte.
» Guten Morgen, meine Damen und Herren. Zu diesem Zeitpunkt wären im Verfahren gegen Mr. Pete Duffy eigentlich Anklage und Verteidigung mit ihren Schlussplädoyers an der Reihe. Sie werden diese jedoch nicht halten. Aus Gründen, die ich im Augenblick nicht näher erläutern will, erkläre ich das Verfahren für fehlerhaft.«
Den Menschen im Saal blieb die Luft weg. Überall waren überraschte Gesichter zu sehen. Theo behielt Pete Duffy im Auge, der sich mit entsetztem Gesicht zu Clifford Nance umdrehte. Die Juristen auf beiden Seiten sahen aus, als hätten sie eine kalte Dusche abbekommen, und konnten offenkundig noch gar nicht fassen, was sie soeben gehört hatten. In der ersten Reihe, unmittelbar hinter dem Tisch der Verteidigung, drehte sich Omar Cheepe um und sah Theo, der zwei Reihen hinter ihm saß, direkt an. Er starrte nicht, sein Blick war nicht einmal besonders bedrohlich, aber der Zeitpunkt sagte alles: Das warst du, ich weiß es. Mit dir bin ich noch nicht fertig.
Die Geschworenen wussten nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Richter Gantry erklärte es ihnen: » Meine Damen und Herren Geschworene, wenn ein Verfahren für fehlerhaft erklärt wird, ist es beendet. Die Anklage wird zurückgenommen, allerdings nur vorläufig. Sie wird in Kürze erneut erhoben werden, und es wird ein neues Verfahren geben, aber mit anderen Geschworenen. In einem Strafprozess liegt es ausschließlich im Ermessen des Richters, ob er ein Verfahren für fehlerhaft erklärt, wenn er davon überzeugt ist, dass Umstände vorliegen, die den Urteilsspruch beeinträchtigen könnten. Das ist hier der Fall. Danke für Ihre Dienste. Sie spielen in unserem Rechtssystem eine wichtige Rolle. Hiermit sind Sie entlassen.«
Die Geschworenen waren völlig verwirrt, aber einige begriffen allmählich, dass sie ihre Bürgerpflicht damit erfüllt hatten. Ein Gerichtsdiener bugsierte sie durch eine Seitentür hinaus. Während sie davontrotteten, beobachtete Theo voller Bewunderung Richter Gantry. In diesem Augenblick beschloss er, dass er, Theo, ein großer Richter werden wollte, genau wie sein Vorbild dort oben am Richtertisch. Ein Richter, der das Gesetz in- und auswendig kannte und an Fairness glaubte, vor allem aber ein Richter, der auch unangenehme Entscheidungen fällen konnte.
» Ich hab’s dir ja gesagt«, flüsterte Ike. Er war davon überzeugt gewesen, dass das Verfahren für
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