Theologisch-Politische Abhandlung: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
genöthigt, um einem Uebel zu entgehen, aber immer nach eigner Ueberlegung und eignem Entschluss handelt, so giebt es entweder keine Staatsgewalt und kein Recht über Unterthanen, oder es erstreckt sich auf Alles, was bewirkt, dass die Menschen ihr nachzugeben sich entschliessen. Was ein Unterthan thut, der den Befehlen der Staatsgewalt nachkommt, mag er dabei durch Liebe bestimmt oder durch Furcht getrieben werden oder, was das Gewöhnlichere ist, von Hoffnung und Furcht zugleich, oder aus Ehrfurcht, was ein aus Furcht und Bewunderung zusammengesetztes Gefühl ist, oder aus irgend einer Ursache, der handelt nach dem Befehle des Staates, aber nicht nach seinem Recht. Dies ergiebt sich auch klar daraus, dass der Gehorsam nicht sowohl die äussere Handlung als die innere der Seele angeht. Deshalb ist der unter der Gewalt eines Anderen, welcher aus voller Seele allen seinen Befehlen zu gehorchen bereit ist, und deshalb hat Der die grösste Gewalt, welcher über die Gemüther der Unterthanen herrscht. Hätten Diejenigen die grösste Gewalt, die am meisten gefürchtet werden, so besässen sie die Untergebenen des Tyrannen; denn diese werden von ihren Tyrannen am meisten gefürchtet. Wenn man auch der Seele und der Zunge nicht gebieten kann, so stehen doch die Geister in gewissem Sinne unter dem Befehl der Staatsgewalt, da sie viele Mittel hat, um den grössten Theil der Menschen das glauben, lieben oder hassen zu machen, was sie will. Wenn dies also auch nicht auf ausdrücklichen Befehl der Staatsgewalt geschieht, so geschieht es doch, wie die Erfahrung genügend lehrt, durch das Ansehn und die Leitung dieser Gewalt, d.h. durch ihr Recht. Deshalb kann man sich ohne Widerspruch Menschen vorstellen, die vermöge des blossen Rechts des Staates glauben, lieben, hassen, verachten und überhaupt in Affekt gerathen.
Obgleich ich hiernach das Recht und die Macht des Staates sehr ausgedehnt auffasse, so kann sie doch nie so gross sein, dass deren Inhaber ohne jede Schranke die Macht zu Allem, was sie wollen, hätten. Ich glaube dies schon hinreichend dargethan zu haben. In welcher Weise aber die Staatsgewalt einzurichten ist, dass sie demnach gesichert bleibt, dies zu zeigen, ist, wie gesagt, nicht meine Absicht. Um indess dahin zu gelangen, wohin ich will, werde ich das berühren, was zu diesem Zwecke vorzüglich die göttliche Offenbarung dem Moses gelehrt hat, und ich werde dann die Geschichte und Erfolge der Juden in Erwägung nehmen, woraus sich dann ergeben wird, was den Unterthanen zur grösseren Sicherheit und zum Wachsthum des Staats von der höchsten Gewalt zugestanden werden kann.
Vernunft und Erfahrung lehren deutlich, dass der Bestand des Staates vorzüglich von der Treue der Unterthanen und von ihrer Tugend und Beharrlichkeit abhängt, mit der sie die Befehle befolgen; allein es ist nicht so leicht ersichtlich, wie die Unterthanen behandelt werden müssen, damit sie beständig treu und tugendhaft bleiben; denn sowohl die Regierenden wie die Regierten sind Menschen und zur Lust ohne Arbeit geneigt. Wer den wechselnden Sinn der Menge erfahren hat, verzweifelt beinahe daran, weil sie nicht durch die Vernunft, sondern nur durch die Affekte sich leiten lässt, und weil sie zu Allem bereit ist und leicht durch Geiz oder Ueppigkeit verdorben wird. Jeder Einzelne meint Alles zu verstehen und will, dass Alles nach seinem Sinn geschehe; er hält etwas für unbillig oder billig, für ungerecht oder gerecht, nur soweit es ihm Schaden oder Nutzen bringen kann; aus Ehrgeiz verachtet er Seinesgleichen und lässt sich von ihnen nicht leiten; aus Neid über grössere Ehre oder Glücksguter, die doch niemals gleich sind, wünscht er den Anderen Uebles und erfreut sich daran. Ich brauche nicht Alles herzuzählen; denn Jeder weiss, zu welchen Lastern die Verachtung des Bestehenden und die Begierde nach Neuem sowie der Jähzorn und die Verachtung der Armen die Menschen oft verleiten, und wie sehr diese Leidenschaften ihre Seele erfüllen und bewegen.
Es ist also die Aufgabe und Arbeit, dem Allen zuvorzukommen und die Staatsgewalt so einzurichten, dass für den Betrug kein Raum bleibt, und Alles so zu ordnen, dass Alle trotz ihres verschiedenen Sinnes das öffentliche Recht dem eigenen Nutzen voranstellen. Die Notwendigkeit trieb hier, Vieles auszudenken; allein man ist nie dahin gelangt, dass der Staatsgewalt von ihren Bürgern weniger Gefahr als von ihren Feinden drohte, und dass die Inhaber nicht mehr jene als diese
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