Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
europäische Gegenwart den Humboldtschen Überlegungen hohn.
Das Verhältnis der Universitäten zum Staat hat neben ökonomischen und juristischen auch prinzipielle Dimensionen. Dabei wird letztlich über den öffentlichen Charakter von Wissenschaft entschieden. Über die Bedeutung von Forschung im naturwissenschaftlich-technischen Bereich herrscht in der Regel Konsens. Die Debatte beginnt, wenn über die Finanzierung, die Strukturen, die inhaltliche Ausrichtung und die erwartbare Verwertbarkeit geistes- und humanwissenschaftlicher Forschung diskutiert wird. Daß Forschung, welcher Art auch immer, nicht ausschließlich dem Staat vorbehalten ist, versteht sich von selbst. Die Forschungsleistungen privater Unternehmen sind ebenso legitim wie anerkennenswert. Daß aber umgekehrt eine konkurrenzfähige staatliche, das heißt öffentlich geförderte Forschung, vor allem im Bereich der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften sowie der medizinischen und naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, notwendig ist, ist geradezu ein demokratiepolitisches Postulat.
Der Charakter des wissenschaftlichen Wissens zeichnet sich gegenüber anderen, esoterischen Wissensformen gerade dadurch aus, daß er prinzipiell exoterisch, also öffentlich ist; der Staat als Repräsentant der politischen Öffentlichkeit hätte dem insofern Rechnung zu tragen, als er gewährleisten müßte, daß in allen wesentlichen Bereichen eine leistungsfähige, von privaten, das heißt partikularen Interessen letztlich unabhängige Forschung existiert, die es erlaubt, die Produktion von Wissen wenigstens im Prinzip transparent zu halten und private Forschungsinteressen gegebenenfalls auszugleichen oder zu konterkarieren. Forschungspolitik, die diesen Namen verdiente, hätte dafür zu sorgen, daß die Freiheit der Forschung nicht nur nicht behindert, sondern garantiert und gefördert wird.
Die in vielen Bereichen in den letzten Jahren durchgesetzte sogenannte Autonomie der Universitäten scheint auf den ersten Blick genau der Forderung nach Freiheit der Lehre und Forschung zu entsprechen. Ausgestattet mit garantierten Budgets, die zumindest die Basisausstattung und zentrale Bereiche der Lehre abdecken sollen, können die Universitäten zunehmend frei über Personal, anzubietende Studienrichtungen und Forschungsschwerpunkte entscheiden. Es ist allerdings erstaunlich, daß dort, wo dieser Übergang in die Autonomie vollzogen wird, die davon Betroffenen nicht selten den Eindruck haben, daß Freiheitsräume nicht erweitert, sondern auf allen Ebenen eingeengt werden. Die in einem institutionellen und ökonomischen Sinn autonome Universität ist noch lange keine freie Universität. Autonomie ist oft ein Euphemismus für Mangelverwaltung, die der sparsame Staat nun den Universitäten selbst überläßt; und über Budgetvereinbarungen, Wissensbilanzen und europäische Vorgaben sind die Universitäten nicht nur nach wie vor der Politik ausgeliefert; über Drittmittelgeber, Akkreditierungs- und Evaluationsagenturen und Universitätsräte regieren auch zunehmend private Interessen in die Belange der Universitäten hinein. Die herrschende Ideologie der Entstaatlichung hinterläßt hier deutlich Spuren. Der Zugriff des Marktes und eine Auslagerung der politischen Kontrolle auf informelle mediale Öffentlichkeiten führt zu einer »Zähmung der wissenschaftlichen Neugier«, 57 die sich unter Umständen für eine innovationssüchtige Gesellschaft als kontraproduktiv erweisen könnten.
Gegenüber den von Staatsbürokratien gelenkten Universitäten haben sich vor allem die Kontroll- und Steuerungsmechanismen verändert: Sie wurden verinnerlicht. Damit sind sie im Gegensatz zur ministeriellen Behörde vergangener Tage unsichtbar geworden. Das Konzept der Selbststeuerung von Organisationen durch permanente Kontrolle, das auch an anderen Orten gesellschaftlicher Entwicklung anstelle offener Herrschafts- und Machtverhältnisse getreten ist, ist an den Universitäten am reinsten und doch in paradoxer Weise ausgebildet, da sich diese unverändert als Zentren der Reflexion betrachten, die es sich jedoch versagen müssen, das zu reflektieren, was an und mit ihnen selbst geschieht. Fast alle Steuerungs- und Kontrollverfahren wurden nicht aus den inneren Bedürfnissen und Strukturen der Universitäten entwickelt, sondern von außen, vor allem aus dem Bereich der Unternehmensberatung und der ihnen angeschlossenen Managementtechnologien, übernommen.
Es ist schon erstaunlich, daß
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