Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
einem die Stasi auf den Fersen war, wenn man auf den schmalen Mecklenburger Landstraßen dahinkroch. (Ein gesundes Sodbrennen, ein angenehmes Kitzeln in den überanstrengten Sehnerven. So etwas macht es erst wert, für den Kampf zu leben, stimmt’s, Klaus? So kannst du deine Zeitschrift mit beliebig vielen nackten Busenköniginnen füllen und dennoch mit dem Bewusstsein ins Bett gehen, dass deine Tätigkeit einem edlen Zweck dient.)
    *
    (Die heimatlose Linke?)
    1966: ein Jahr großer politischer Enttäuschungen. Nach der Wahl im Dezember kommt es bei der einzigen legalen Sozialistische Partei (SPD) zum Ausverkauf ihrer politischen Interessen und zum Verrat an ihren progressivsten Mitgliedern, indem man eine »große Koalition« mit den verhassten Rechten, der CDU, eingeht; Brandt, der alte Nazigegner (heute Außenminister) gibt dem alten Nazi (heute Bundeskanzler) Kiesinger die Hand: Wer hätte das je gedacht? Opportunismus? Wenn es nur dabei geblieben wäre. Die Intellektuellen, unter ihnen Meinhof in konkret , warnen vor der Konsolidierung des Monopolkapitals hinter dieser Fassade scheinbarer politischen Zusammengehörigkeit. ( Ist also die Bundesrepublik im Begriff, ein Ein-Parteien-Staat zu werden, eine Diktatur von nahezu lateinamerikanischem Stil? )
    Doch nicht das fürchtet Ulrike am meisten (Politik und Kapital gingen bereits in der Nazizeit Hand in Hand, was die Zerstörung erst ermöglicht hatte), sondern die kollektive Amnesie, für die diese »Koalition« ein Beweis ist:
    SCHOLL? HEISST SO NICHT EINE SERIE
VON FUSSPFLEGEPRODUKTEN
    Für das Vergessen gibt es ein Bild. Das Bild zeigt eine Landschaft, ein Stück innerer Architektur und eine Anzahl Menschen (die allerjüngsten, die zu spät geboren sind, um Erinnerungen an den Rüstungswahnsinn der Nazizeit zu haben).
    Zuerst die Landschaft: gespalten von einer Mauer, die obgleich künstlich, als mehr und mehr natürlich dargestellt wird (man spricht von den zwei Hemisphären, als müsse die Grenze naturbedingt dort liegen, wo man beschlossen hat, dass sie verlaufen soll). Jenseits der Mauer: eine Schattenzone. Diesseits: Business as usual . Im Grunde hat sich nichts geändert. Es herrscht dieselbe bestialische Kriegermentalität wie zuvor, nur dass die alten Insignien beseitigt und neue an ihre Stelle getreten sind. Es ist in der Jetztzeit, dass amerikanische Bomber von deutschen Armeestützpunkten abheben, und weil westdeutsche Politiker (nach »der Koalition«: rechte Politiker ebenso wie linke Verräter) diese Tatsache akzeptiert haben, können die Bomber ihren Aktionsradius weiter und weiter ausdehnen: Die vereinigte westliche Welt macht ihre postkolonialen Ansprüche mit einem Zynismus und einer Brutalität geltend, die selbst die der sadistischen Politruks der Nazizeit weit übertrifft. Und dazu gehören die Gesichter: junge Menschen, deren Antriebsimpulse nur von seelenlosen Dingen geweckt werden und die ihre berechtigte soziale Unruhe gegen einen Konsumtionszwang eintauschen, der von derselben Industrie befriedigt wird, die Ersatzteile für Bombenflugzeuge nach Frankfurt und Heidelberg liefert. Wie ist es nur möglich, das mit anzusehen, ohne zu reagieren?
    *
    (»Die Trauer verebbt, die Leere bleibt«)
    Das Ergebnis der Seelenqual: Ein Erguss von Wörtern im Spaltenkasten von konkret. Noch misstraut Ulrike den Medien nicht, in denen zu arbeiten ihr oblag und die sie späterhin hassen wird. Stattdessen macht sie aus der Not eine Tugend, aus dem »Totenbuch« wird eine schmale Aktentasche, die sie in Redaktion und Parteibüros mitnimmt und zuweilen öffnet, wenn man sie bei Fernsehpodiumsdiskussionen bittet, ihre Sicht des jeweiligen Sachverhalts darzulegen. Stets die einzige Frau und stets am weitesten links auf dem Podium sitzend. (Der Kommentator: Frau Meinhof, Ihre Autorität beziehen Sie aus Ihren Argumenten, ich meine Ihre Tätigkeit als Kolumnistin bei konkret. ) Millionen Fernsehzuschauer lernen sehr bald dieser einzigen Frau zuzuhören, die mit leiser eindringlicher Stimme spricht, den Blick fest auf die Tischplatte gerichtet, so als lägen die Argumente dort bereit, erforderten jedoch eine erhebliche Anstrengung, um sie aufnehmen und in Worte kleiden zu können.
    Wo aber verläuft die Grenze zwischen der Tatsache, sozialer Zeuge zu sein oder Geisel der staatstragenden sozialen Schicht, ein weiteres linkes Element auf der »pluralistischen Palette«, die die obersten Gesellschaftskreise so gern herzeigen? Meinhofs eigener

Weitere Kostenlose Bücher