Theres
in keiner vernünftigen Proportion zu dem steht, was es den Lesern bringt. Es gibt hier eine Schieflage, die ihr nicht behagt. Die Leser haben das Recht, auch deren Meinung zu hören. Aber genau das ist das Problem: deren Meinung ist keine. Sie haben vielleicht recht mit ihrer Analyse, die Kompromisslosigkeit ihres Engagements ist jedenfalls erhebend; doch (auch nach den Schüssen auf Dutschke bleibt dieses Gefühl): ihre einzige Triebkraft ist Hass . Und wann ist Hass je eine Kraft gewesen, die etwas verändern kann?
Nachdem sie Horst Mahler , Baaders Anwalt, angerufen und ihm gedankt hat, dass er die Besuchserlaubnis erwirkt hatte, tut sie etwas Ungewöhnliches: Sie ruft ihre Pflegemutter an. Sie erzählt Renate von dem Besuch, aber nicht viel mehr; stattdessen sprechen sie ungewöhnlich lange über die Kinder. Aus irgendeinem Grund brennt sich dieses Bild am stärksten ein: dass eine Bedrohung der Kinder vorliegt.
Sie kann es nicht erklären. Und vermutlich gibt es keine andere Erklärung als das impulsive Gefühl: dass sie die Kinder vor diesem Hass schützen muss. Dennoch der Gedanke: Über welch seltene Kräfte verfügt die Ensslin, dass sie der ungeheuren Aggressivität nicht nur widerstehen, sondern sie kanalisieren und sogar brauchbar machen kann? Ulrike sieht sie mit der Geige unterm Kinn dastehen, leicht vorgebeugt, ein Bein vorgestreckt, als zöge sie die Musik mit Kettenkraft aus der Erde; das Gesicht so konzentriert, dass es, paradoxerweise, einem warmen, fast innerlichen Lächeln Platz macht. Ulrike steckt sich ungeschickt eine Zigarette an. Zu Gudrun: Und wenn dich jemand bezichtigt, nur ein simples Anarchistenschwein zu sein, was antwortest du dann? Keine Antwort, nur ein Lächeln voller Gewissheit; Ulrike denkt: Pastorentochter.
Berliner Banalitäten
Allein mit den Kindern auf der Tribüne vor dem Fernseher. Die Naturstunde bringt eine Sendung über Wale. Arktische Weiten, unermessliche Wassertiefen; eine Stimme erklärt in feierlichem Ton:
Der Grönlandwal, eine nunmehr vom Aussterben bedrohte Art, lebt in den kalten Gewässern nördlich des Polarkreises, wo es in den Sommernächten stets hell ist. Das wichtigste Kennzeichen des Grönlandwals ist seine Fähigkeit, kolossale Entfernungen unter dem Eis zurückzulegen. Wenn er an die Oberfläche kommt …
( Mama, guck mal! ) Ein Wal durchbricht die Wasseroberfläche, und zwischen den Eisblöcken schießt ein schwindelerregend hoher Strahl kondensierter Atemluft empor:
… kann die Atemluft eine Höhe von nahezu dreißig Metern erreichen. Doch der Grönlandwal lebt unter äußerst prekären Bedingungen. Im Winter ist die Eisbildung in der nördlichen Arktis gewaltig; das Eis bewegt und wälzt sich unablässig, und der Wal muss sich erinnern, wo sich die Löcher im Eis befinden, damit er nach oben kommen und atmen kann.
( Mama, was sagt er? ) Er sagt, der Wal muss sich erinnern, wo die Löcher im Eis sind, damit er manchmal nach oben kommen und Luft holen kann. ( Warum denn? ) Weil die Wale genauso sind wie wir, sie atmen mit einer richtigen Lunge …
*
Draußen auf dem Flur klingelt das Telefon; klingelt immer weiter. Am Ende verstummt es.
HOMANN (aus dem Schlafzimmer) : Willst du nicht rangehen?
*
Und Ulrike denkt (wie so oft, wenn sich der Kopfschmerz in Erinnerung bringt und die Hände sich unkontrolliert bewegen, genau wie damals, vor der Operation): Und wenn es so ist, dass man sich tatsächlich falsch erinnert ? Ist das so undenkbar? Keine Erinnerung mehr an all das, was geschehen und was wirklich ist, während all das Unwirkliche, all das Irrelevante und Falsche sich stattdessen festgesetzt hat.
Denkt: Erinnere mich nicht einmal, wie es war, als meine Kinder geboren wurden.
Wo die Erinnerung sein sollte, ist nur Schmerz. Als wäre alles Wasser des Meeres ins Gehirn geströmt und läge nun dort und vernichtete jeden Gedanken mit seiner ungeheuren, drückenden Last. Aus diesem Tiefseegrab an die Oberfläche zu gelangen, wenn auch nur, um zu atmen, war eine nahezu unmögliche Aufgabe. Dennoch dieses zwingende Muss . Man selbst zu sein, indem man aus sich heraustritt. Lachen, scherzen:
WENN MAN VOR DER ENTBINDUNG DOPPELT SIEHT,
BRINGT MAN DANN ZWILLINGE ZUR WELT ?
Gesagt zu Klaus, der vermutlich geglaubt hat, der Gehirntumor habe sich auf ihren Verstand ausgewirkt. Später, als man ihm das Ergebnis der Geburt brachte, glaubte er wohl, sie verfüge über eine ganz besondere Intuition, kennzeichnend für Hunde, Frauen und andere
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