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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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vergangenen Donnerstag, Irene :
    Man kann sich NATÜRLICH wärmstens für kollektive Kinderbetreuung aussprechen. Aber für dich, Ulrike, taugen wohl doch nur die exklusivsten Kindermädchen, oder?
    *
    (Interieur / Tag)
    Ulrike bei der Arbeit. Ziel: Szenen auszudenken, in denen die latenten Gegensätze des Kapitalismus auf eine Weise manifestiert werden, dass man sie nicht nur als Beschreibung der Realität, sondern auch als deutlich an einen selbst gerichteten Appell begreift: etwas gegen den Zustand zu tun, der uns Menschen auf vernunftlose Tiere zu reduzieren droht.
    Widerspruch: Man kann keine Kölln-Flocken essen und zugleich die Tatsache übersehen, dass diese scheinbar unschuldigen Haferflocken eine unbestimmte Anzahl junger Mütter irgendwo als Lohnsklaven an Fließbänder fesseln.
    Widerspruch : Man kann seine Kinder keine billige Nutella schlecken lassen und zugleich die Tatsache übersehen, dass die Schokolade in einem Land produziert wird, an das die korrumpierten Machthaber Deutschlands bereitwillig ihre Waffen verkaufen würden, ein Land, dessen Einwohner einzig das Bedürfnis haben, sich an denselben Haferflocken satt zu essen, die ihre eigenen Kinder verschmähen und die sie jeden Morgen in den Ausguss kippen muss.
    Was kann ein Menschen denn daran ändern?
    An den Konsequenzen dieses Umstands nichts. Die Verhältnisse selbst müssen verändert werden.
    Wer könnte dann eine solche (notwendige) Veränderung in Gang bringen?
    Namen? Ulrike schreibt: Horst Mahler , Baaders Anwalt, bei allen Demonstrationszügen stets in vorderster Reihe, den Bergmannshelm fest unter den Arm gedrückt. Bahman Nirumand , einer der wenigen, die Fanon tatsächlich gelesen haben und der deshalb weiß, dass der hier auf den Straßen geführte Kampf derselbe ist wie jener, der auf den Straßen überall in der Welt geführt wird, wo die Macht die Strategie verfolgt, die breiten Massen für unmündig zu erklären. Rudi Dutschke , der nach dem feigen Attentat von Bachmann und der Bild-Zeitung gezwungen war, alles von Grund auf neu zu erlernen, auch das Elementarste: etwa, wie man aus vier Wörtern auf einem Papier einen verständlichen Satz formt. Schreibt: Was dieser Nation fehlt, ist nicht Erkenntnis und Erfahrung, sondern eine Führung.
    *
    (Interieur /Abend)
    Der Fernseher in seiner Ecke lärmt, während die Zwillinge mit großen, starren Augen zuschauen. Tom und Jerry jagen einander durch eine zum Piranesi-Labyrinth verwandelte leere verwüstete Wohnung. Ulrike auf den Knien vor dem hohen Fernseh-Altar, nimmt die Nutellatütchen aus den Händen der Kinder, denkt: Wie kann man nur so eine idiotische Verpackung herstellen? (vermutlich aber gehört es zur Verkaufsstrategie der Firma: Je länger man das infantile Saugbedürfnis der Kinder erhält, umso besser); sagt: Wollen wir was anderes anschauen?
    Brave Kinder. Inzwischen so passiv, dass sie nicht einmal protestieren, als sie zur Natursendung im Zweiten umschaltet:
    ( Mama, warum liegen denn all die Wale auf dem Strand? – Walen fehlt das Brustbein. Aus dem Grund ersticken sie, wenn sie an Land kommen. )
    Im Bild werden die Walkadaver festgezurrt, an Haken festgemacht, dann mit Seilwinden auf einen breiten, bereits glitschigen Steg gehievt:Männer mit langen Messern treten hinzu und schlitzen Bäuche auf, waten durch den Blutstrom in hohen schwarzen Gummistiefeln.
    ( Mama, ich find das eklig; ich will nicht mehr gucken. )
    Kommt zu sich und sieht Bettinas Gesicht vollkommen mit der klebrigen Schokoladencreme beschmiert, es ist eine andere Bettina: ein Mädchen gleichen Namens, aber nicht sie ; und Ulrike fährt die Kinder an: Okay, jetzt reicht’s. Ab ins Bett.
    Sie gehen nicht ins Bett. Sie muss sie ins Bett bringen. Versucht sie zu beruhigen, es mit einer Gutenachtgeschichte zu überspielen.
    *
    (Fabel)
    »Du sollst Esel heißen«, sagte Gottvater, »das ist dir doch recht?« – »O ja«, sagte der Esel und rannte fröhlich davon. »Versprecht mir jetzt, dass keiner seinen Namen vergisst!«, rief Gottvater, als er mit der Namensvergabe fertig war. Das gelobten alle Tiere und sprachen ihre Namen mehrmals vor sich hin.
    Nur der Esel, der eilig davonlief, hörte nicht zu. Er dachte bereits daran, wo er etwas zu essen bekam und einen Platz zum Schlafen fand.
    Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er seinen Namen vergessen. Erst dachte er, das wäre nicht schlimm. Man komme auch ohne Namen gut zurecht. Und Gottvater würde sich wohl nicht darum kümmern. Doch da irrte

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