Theres
er sich. Denn ausgerechnet an jenem Tag ging Gottvater von einem Tier zum anderen und fragte ein jedes nach seinem Namen. Alle kannten ihn. Nur der Esel begann zu stammeln, und selbst beim besten Willen fiel ihm sein Name nicht ein.
Da zog Gottvater den Esel bei den Ohren. »Merk dir jetzt«, rief er, »dass du ESEL heißt!« – »Ijaaa!«, schrie der Esel.
*
Doch nicht der Esel schreit. Draußen im Flur klingelt das Telefon. Ulrike nimmt den Hörer ab. Klaus?
*
Ich wollte nur hören, ob es für dich in Ordnung geht, wenn ich die Kinder jetzt im Juni ein paar Wochen mit nach Kampen nehme.
Um mit der Indoktrinierung weiterzumachen? Ja doch, ist okay.
Der Indoktrinierung …? Ich verstehe nicht, was du –
Wir haben miteinander gebrochen, Klaus; und nichts kann mich dazu bringen zu verstehen, dass das, was auf beruflicher Ebene gilt, nicht auch auf privater gelten sollte. Zu behaupten, da gäbe es einen Unterschied, wäre zurzeit eine grenzenlose Vermessenheit.
Aber es geht nur um ein paar Wochen. Ulrike, ich verstehe, dass du unter Druck stehst, aber kannst du denn nicht versuchen, das Ganze objektiv zu sehen.
Als Dutschke niedergeschossen wurde, hättest du daran denken sollen, es objektiv zu sehen. Da hattest du eine reale Möglichkeit, es objektiv zu sehen und auch so zu handeln. Aber was hast du damals, an dem Abend getan, als Rudi …
Dass du dort warst, das wissen wir ja. Das war ja zu der Zeit, als du nach wie vor geschrieben hast.
Ich habe nicht nur geschrieben …
Wofür du dem Zufall dankbar sein kannst. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass du an jenem Abend offenbar falsch geparkt hattest. Arme Ulrike: wegen eines solch harmlosen Versehens im Polizeiregister zu landen.
Das stimmt nicht. Wer verbreitet solche Lügen. Stefan?
Du weißt genau, Ulrike, dass ein Journalist nie seine Quellen preisgibt. Oder hast du das auch schon vergessen?
Gute Nacht. Wegen der Kinder melde ich mich noch mal. Schlimmstenfalls müssen wir wohl einen Anwalt beauftragen.
*
(»Mit dem Rücken an der Mauer kann ich nicht anders, als blind zuzusehen …«)
Du warst da, Ulrike? Ja, ich war da . Aus so banalen Gründen, dass nicht einmal ein Klatschreporter etwas daraus machen könnte. So aber ist die Wirklichkeit: deren Karte wird nicht von geraden Schützengrabenlinien gestaltet. In Wahrheit lenkt der Zufall, zuweilen die reinste Willkür. In Erinnerung nur: eine Stimme am Telefon, die etwas über Rudi sagte und dass sie kommen müsse. Der Beweis sichtbar für alle: der Bürgersteig, auf dem noch immer Rudis Schuhe lagen, vom Kreidestrich der Polizei umschlossen wie in einem symbolischen Kreis. Die Trauerversammlung im SDS - Zentrum ein ebenso symbolischer Akt. (Wo er gerade von Prag zurückgekommen ist, sagte einer, und über einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht schreiben sollte; was für eine Ironie …! )
Du warst da? Ja, ich war da . War da, als die ersten und, wie sich zeigen sollte, falschen Todesnachrichten kamen. Ebenso wie bei den anschließenden Diskussionen in der Aula der Technischen Universität. Doch keiner, am wenigsten sie selbst, wäre auf den Gedanken gekommen, sich zum Springer-Hochhaus zu begeben, wenn der Rundfunk nicht berichtet hätte, dass das Gebäude bereits mit Stacheldraht gesichert war. Da, natürlich, war allen klar – ( wir müssen die eigentlich Verantwortlichen zur Verantwortung ziehen; das hier ist das Werk der faschistischen Presse! )
Und du warst da? Ja, ich war da, alle waren da . Bin mit dem Auto hingefahren. (Was hätte ich tun sollen? Einen Rückzieher machen?)
Aber auch erschrocken über die lange Wagenkolonne, die die Ausfahrt zur Kochstraße blockierte. Sie brauchte das Auto. Wie sollte sie sonst zur Universität kommen, die Kinder wegbringen und sie holen, ihre Einkäufe erledigen? Da kam Stefan Aust auf die Idee, dass sie auf den Gehweg fahren und ihr Auto an der Hauswand parken könnte. Dort stand es geschützt.
Du warst da. Und warst doch nicht da.
(Was hätte ich denn tun sollen?) Das Auto bewusst demolieren lassen? Mich am Steinewerfen beteiligen? Einer Revolutionsmärtyrerin gleich die Führung des Haufens grölender junger Leute übernehmen, die die Auslieferungsfahrzeuge in Brand steckten? Sich von der Polizei die Arme auf den Rücken drehen und sich in einen der bereitstehenden Einsatzwagen schleppen lassen?
Du warst da. Und warst doch nicht da.
(Aber ich war da. Mit dem Rücken an der Mauer habe ich alles beobachtet und gesehen.) Hast dich dann
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