Thorn - Die letzte Rose
schnellen Takt seiner Worte ein wenig abgelenkt gewesen, deshalb bemerkte sie nicht, dass Jules in die Hosentasche gegriffen hatte. Schneller, als sie es mit bloßem Auge verfolgen, geschweige denn es verhindern konnte, hatte er die Hand wieder hervorgeholt, auf den Tresen gelegt und sie geöffnet.
Das Juwel darin war kaum größer als ein Kieselstein, doch es pulsierte heftiger als das wild-wütend schlagendes Herz eines Werwolfs. Fahler, myriadenhaft grüner Glanz ging davon aus und nahm ständig zu, wurde immer intensiver.
Es war Thorn nicht möglich, ihren Blick davon abzuwenden; wie hypnotisiert starrte sie darauf und gewährte dem Leuchten bedingungslosen Einlass in ihre Seele. Jäh kroch es in sie hinein, breitete sich unaufhaltsam darin aus und nahm binnen eines Wimpernschlags das gesamte Bewusstsein wie in einer Zwangsjacke gefangen.
Alles drehte sich um die Rosenritterin, sie fühlte sich in einen frenetisch kreisenden Strudel aus purer, grüner Energie gezogen. Dunkle Sternchen schienen sich um sie zu drehen. Die leise Stimme in ihr, die sie eben noch davor gewarnt hatte, sich bedingungslos hinzugeben, verstummte abrupt, als der Bann um sie geschlossen war.
Jede Kontur um sie verschwamm. Das BLUE MOON, die Gäste, Jules, sogar sie selbst. Ohne sich dagegen zur Wehr setzen zu können, schlossen sich ihre Augen, verlor sie jäh den Kontakt zur Realität und verlor das Bewusstsein.
*
... Allerdings nur für einen Atemzug, noch bevor Thorns Knie einknicken und sie stürzen konnte!
Als sie wieder die Augen aufschlug, hatte sich etwas verändert.
Die Nebel um ihren Geist waren wie verweht, ihr war völlig klar zumute. Im Gegenteil, sie fühlte sich lichter als seit langem, wie ein fein gestimmtes Musikinstrument, das darauf wartete, von einem begnadeten Virtuosen gespielt zu werden und die Zuhörer mit seinem fragilen Klang zu erfreuen.
Und doch fühlte sie sich gefangen. Unter Kontrolle und unter der Gewalt eines Anderen. Wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden geführt wurde und der es einfach nicht gelingen wollte, diese Fäden mit einem beherzten Hieb zu kappen.
Jetzt erst bemerkte sie das breite, ein wenig hämisch wirkende Grinsen des Wirts. Thorn verstand. Er hatte einen Bann über sie gelegt. Jules’ Augen funkelten, den Magie-Stein in seiner Hand hatte er vor die vermeintliche Mondvampirin auf die Tischplatte gelegt, sodass sie von dem irisierenden Licht frontal getroffen wurde.
Was immer hier vor sich ging - Jules hatte inzwischen die Seiten gewechselt. War er einst noch ein gutmütiger Bursche gewesen, der davon träumte, irgendwann seine menschlichen Schwächen abzulegen, indem er zum Vampir wurde, so schien er diesen Schritt jetzt bereits vollzogen zu haben. Wie genau, Thorn konnte es nicht genau sagen, das würde sich zeigen, doch die Indizien waren erdrückend. Das machte ihn nicht unbedingt sympathischer.
Das Grinsen schien in seinem Gesicht eingemeißelt zu sein und war kaum noch herauszubekommen, obwohl es Thorn gern mit ihren Fäusten versucht hätte. Schneller, als man es ihm bei seiner untersetzten Statur zutraute, kam er um den Tresen herum.
„Tut mir nicht Leid, aber das musste sein“, meinte er falsch wie eine Schlange, während er den Magie-Stein wieder in seiner Hosentasche verschwinden ließ; er hatte seine Arbeit getan. „Sie werden für unsere kleine Armee eine Bereicherung sein.“
Thorn versuchte etwas zu erwidern - vergebens! Sie konnte nicht einmal einen Finger rühren, obwohl sie jeden Gedanken klar im Kopf formulieren konnte. Ihr war zumute, als komme der Impuls, sich zu bewegen oder etwas anderes zu tun, nicht in den entscheidenden Synapsen ihres Gehirns an und wurde vorher blockiert.
Fast sanft war Jules’ Berührung, als er sie bei der Schulter nahm. „Kommen Sie bitte.“
Obwohl sich jeder Funke Willenskraft in Thorn dagegen wehrte, blieb ihr keine andere Wahl, als den Befehl zu befolgen. Willenlos wie ein Zombie ließ sie sich um die Theke herumführen, zwischen weiteren Gästen, die entweder nichts von den Geschehnissen bemerkt hatten oder wegsahen und nichts bemerken wollten, direkt auf eine kleine, versteckte Tür zu. Er öffnete sie und geleitete Thorn hindurch.
Ein kurzer, dafür umso düsterer Gang tat sich vor ihr auf, lediglich erhellt von einer schwachen Glühbirne ohne Fassung, die von der Decke baumelte. Rechts und links des Flurs standen mehrere Kühlschränke, Getränkekästen und Fässer, in denen das gelagert wurde,
Weitere Kostenlose Bücher