Thorn - Die letzte Rose
ihre Finger ein wenig zu bewegen. Nicht weil es ihr befohlen worden war, sondern weil sie es selbst so wollte!
Nur ein minimaler Erfolg, von dem ihr Entführer nichts ahnte, er war viel zu sehr mit dem Verkehr und seiner Rechtfertigung beschäftigt.
„Wir können es uns nicht leisten, dass Sie es ablehnen,“, stellte er klar, „wir brauchen jeden. Haben Sie keine Sorge, der Bann, unter den ich Sie gestellt habe, hält nicht lange an. Nur bis ich Sie zu meiner Meisterin gebracht habe und sie Ihnen den Sachverhalt erklärt hat.“
Abschätzend sah er sie schief von der Seite an.
„Ich weiß genau, was Sie denken, Cassandra: Sobald Sie frei sind, werden Sie nicht nur mir, sondern auch der Meisterin gehörig den Arsch aufreißen.“ Wissend grinste er. „Beim Ersten des Packs, den ich mitgenommen habe, dachte ich auch, er würde das mit mir tun. Aber von wegen! Meine Meisterin hat bis jetzt jeden überzeugen, sich ihr anzuschließen. Sie werden da keine Ausnahme sein, Cassandra. Und wissen Sie auch, weshalb? Vorhin sprachen Sie von dem Ersten. Jenem Albino mit der Augenklappe. Meine Meisterin ist seine engste Beraterin. Sie ist sogar selbst eine Erste!“
Es bereitete Thorn tiefste Genugtuung, dass es ihr gelang, unbeobachtet die Faust zu ballen. Auch wenn sie sie am liebsten in Jules’ Gesicht versenkt hätte.
*
Die Fahrt durch die Nacht führte aus der Kölner Innenstadt hinaus und von dort in südliche Richtung. Bald schon erkannte Thorn das Ortsschild von Köln-Marienburg, dem Nobel-Vorort, in dem sich alles an hiesiger Prominenz tummelte, was Rang und Namen hatte und sich das leisten konnte, andererseits aber zu viel Lokalpatriotismus besaß, um nicht ins benachbarte Düsseldorf zu ziehen.
Nur wenig später standen sie vor einem mächtigen Tor, umgeben von einer massiven, zwei Meter hohen Mauer. Dahinter erhoben sich mächtige Tannen und verhinderten allzu neugierig Blicke von draußen.
Wie von Geisterhand öffnete sich das Tor, man erwartete sie also bereits. Über den breiten Kiesweg fuhren sie geradewegs auf ein Gebäude zu. Nein, Gebäude war die Untertreibung schlechthin. Auch ‚Villa’ wäre diesem Bauwerk nicht gerecht geworden.
Es handelte sich fast um ein Schloss!
Ein dreistöckiges Palais aus Stein und Glas, das von Scheinwerfern hell erleuchtet wurde, als feiere man dort soeben das Lichtfest. Erker ragten über die gesamte Fassade hinaus, im zweiten Stockwerk befand sich ein Balkon, der groß genug zu sein schien, um dort ein Barbecue bei dem nächsten Konklave, der Papstwahl, zu feiern. Die imposante Terrasse war noch größer und nur über eine Freitreppe, inmitten eines Parks mit Rasen, penibel gepflegten Beeten und einem Springbrunnen zu erreichen.
Allerdings war es gar nicht nötig, hinaufzugehen.
Unten, am Fuß der Treppe, hatten sich mehrere Gestalten versammelt, von denen Thorn eine unsympathischer war als die andere. Düstere Gesellen mit zusammengewachsenen Brauen, die sich ihren Lebensunterhalt nicht mit anständiger Arbeit verdienten. Einige trugen Nadelstreifen, andere Ledermontur wie Rocker. Nur wenige Frauen waren darunter.
Die Höhle des Löwen. Oder vielmehr: der Mondvampire!
Mindestens zwei Dutzend der Blutsauger machte Thorn aus, und jeder von ihnen zerbrach sich vermutlich seinen haarigen Schädel, welches Frischfleisch der Wirt vom BLUE MOON soeben anschleppte.
Alles kein Problem, sagte sie sich, um sich Mut zu machen. Mittlerweile fühlte sie sich besser und hatte nicht nur wieder Gefühl in ihren Gliedmaßen, sondern sich auch wieder halbwegs unter Kontrolle. Möglicherweise hatte das Camouflage-Amulett unter ihrer Kleidung den Bann neutralisiert, oder er funktionierte nicht so lange wie vorgesehen, weil sie keine Mondvampirin war. Es war ohne Bedeutung, solange sie sich nicht verriet.
Durchaus von Bedeutung war hingegen die Frau, die Thorn inmitten der Schar entdeckte.
Heiße und kalte Schauer jagten über ihren Rücken.
Groß war sie, ein wenig knochig gebaut, und doch wies sie deutliche weibliche Rundungen auf. Ihr Haar war pechschwarz und zu einem Pagenkopf geschnitten. In ihrem roten Overall schien sie eine Verkörperung von Luzifer zu sein, dessen Farben sie trug.
Thorn kannte sie. Sogar besser, als ihr lieb war. In jener Nacht vor einem Jahr waren es Thorns Pistolenkugeln gewesen, die diese Frau niedergestreckt hatten. Unmittelbar bevor ihr geliebter Rotauge mit verätztem Gesicht sie in Sicherheit gebracht hatte.
Jules lenkte den
Weitere Kostenlose Bücher