Thors Valhall
sogar in Norwegen.
„Er ist an Magnus’ Grab“, berichtete der Mann, wie erwartet, dabei senkte er den Blick und zerknüllte das dünne Einwickelpapier in seinen Händen. Offensichtlich war er selbst an der Grabstätte gewesen, hatte Blumen abgelegt.
„Ihr seid Freunde?“, hakte Dylan sofort nach, da schüttelte sein Gegenüber den Kopf.
„Freunde würde ich nicht sagen“, begann er zu erklären. „Wir kennen uns, ja, von früher. Heute gehen wir uns eher aus dem Weg. - Ich bin übrigens Henrik.“
Sie schüttelten kurz die Hände.
„Dann warst du ein Freund von Magnus?“
Dylan ließ nicht locker. Wann immer sich die Möglichkeit bot, wollte er mehr erfahren über Thor und dessen Leben, das den Tod von Magnus mit einbezog.
„Na ja.“ Henrik wand sich ein wenig, schien unschlüssig, ob er weitere Informationen preisgeben sollte, doch schließlich seufzte er und erzählte: „Wir wohnten zusammen, Magnus und ich, wie in einer WG – verstehst du?“
Dylan nickte aufmerksam.
„Ich war mitunter schuld daran, dass Thor ins Gefängnis musste.“
„Was?“ Dylans Mund öffnete sich erschrocken.
„Ja, damals, als es passierte, habe ich alles mitbekommen.“ Henrik sah in die Ferne, sein Gesichtsausdruck signalisierte, dass er sich ungern zurückerinnerte. „Zumindest glaubte ich, alles mitbekommen zu haben: Ihren Streit, das Geschrei, dann der Schuss …“
Er schüttelte den Kopf. „Ich war ziemlich betrunken an dem Abend. Dann sah ich Thor mit der Knarre in der Hand, Magnus mit dem zerfetzten Schädel … Mensch, was hätte ich der Polizei erzählen sollen?“
Dylan schluckte betroffen. Er konnte kaum glauben, was er hörte. „Und dann?“
„Als ich nüchtern war, am nächsten Tag, konnte ich mich kaum an Einzelheiten erinnern. Ich habe meine Aussage vom Abend zuvor trotzdem ohne Anstand unterschrieben, und Thor wurde eingebuchtet.“
„Aber – wieso?“
Henrik zuckte mit den Schultern. „Mir war das damals egal, schlichtweg egal. Ich kann nicht sagen, dass ich Thor gemocht hatte. Und erst recht nicht, als ich erfuhr, dass da mit Magnus was am Laufen war.“ Er verzog das Gesicht. „Als das die Runde machte, hatte Thor mehr Feinde, als Freunde, das kannst du mir glauben. Homosexuelle wurden in der Black Metal Szene lieber umgebracht, als geliebt. – Mir blieb gar keine andere Wahl, als gegen ihn auszusagen, verstehst du?“
Dylan schwieg. Er mochte sich kaum vorstellen, wie schlimm alles damals gewesen sein musste.
„Da war der Druck von Freunden, von Leuten, denen du zeigen wolltest, dass du dich einen Dreck scherst um andere, dass der Tod mehr zählt, als das Leben. Je härter du warst, desto angesehener warst du. Wenn du mich fragst, war die „Szene“ der Tod selbst.“
Sein Blick war leer, und dennoch spürte Dylan, dass es Henrik mittlerweile außerordentlich missfiel, was damals passiert war.
„Später hast du deine Aussage zurückgezogen?“
Henrik nickte sofort. „Ja, klar. – Wenn es kein Selbstmord war, dann ein Unfall.“ Zweifelnd sah er Dylan an. „Keine Ahnung, was ich damals gehört habe. Magnus und Thor, die haben sich ständig gezofft, ständig gab es lautstarke Diskussionen. Doch ebenso hingen sie zusammen wie Pech und Schwefel. Ich weiß nicht, worum es an diesem Abend ging, ob Thor Magnus tatsächlich daran hindern wollte, den Schuss abzufeuern – ich weiß es einfach nicht mehr.“
Ein langes Schweigen folgte. Schließlich deutete Henrik zur linken Seite.
„Folge dem Weg bis zum Schluss, dann halte dich rechts, gehe immer geradeaus … so kommst du direkt zu Magnus’ Grab.“
Dylan nickte. „Danke dir!“
Er verabschiedete sich, setzte sich in Bewegung. Die Kälte und die erschreckende Geschichte hatten seine Glieder fast steif gefroren. Mittlerweile wusste er nicht mehr, ob es eine gute Idee gewesen war, hierher zu kommen.
I sit beside the fire and think
Of how the world will be
When winter comes without a spring
That I shall ever see
I sit beside the fire and think
Of people long ago
And people who will see a world
that I shall never know
I sit beside the fire and think
Of older times that were before
I listen for returning feet
And voices at my door [3]
Der Friedhof war leer. Dylan konnte keinen Menschen erblicken, was mitunter auch an dem Nebel lag, der die Gräber dicht bedeckte. Doch schließlich erkannte er Thor, der regungslos auf einer der Bänke saß, die am Wegesrand standen und den Besuchern einen Platz zum Verweilen boten.
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