Thunderhead - Schlucht des Verderbens
brummenden Wolke. Obwohl der Wind den Sand rings um die Stelle verweht hatte, konnte Nora hier einige alte Hufabdrücke sowie frische Pfotenspuren von Kojoten erkennen. Bis auf die Abdrücke von Swires Stiefeln waren jedoch keinerlei menschliche Fußspuren zu finden. Wie Swire gesagt hatte, waren den Tieren die Eingeweide aus dem Leib gerissen und in linksdrehenden Spiralen angeordnet worden. In den Augenhöhlen der Pferdeschädel steckten leuchtend bunte Arafedern, die Nora in dieser kargen Landschaft entsetzlich fehl am Platz erschienen, und aus den aufgeschlitzten Leibern der Pferde ragten bemalte, mit Federn geschmückte Zweige.
Als Nora sich zum Gehen wenden wollte, fiel ihr auf, dass die Schlächter den beiden Tieren je ein rundes Stück aus dem Fell herausgeschnitten hatten. Nora besah sich daraufhin die Kadaver noch einmal genauer. Sie stellte fest, dass den Pferden auch an Brust und Unterleib ähnliche Fellstücke fehlten. Warum haben sie das nur gemacht?, fragte sich Nora. Und wieso an diesen Stellen? Was könnte das für eine Bewandtnis haben?
Sie schüttelte den Kopf und entfernte sich nachdenklich vom Schauplatz des Gemetzels.
»Wer kann das bloß getan haben?«, fragte Smithback, als sie wieder im Sattel saß.
Ja, wer? Genau dieselbe Frage hatte sich Nora während der vergangenen Stunde immer wieder gestellt, aber die Antwort, die ihr darauf am wahrscheinlichsten erschien, war gleichzeitig auch diejenige, welche sie am meisten erschreckte.
Zwanzig Minuten später hatten sie den Fuß des Bergrückens erreicht, und nach weiteren zwanzig Minuten standen sie am Ende des Pfades oben auf dem Grat. Hier hielt Nora an, stieg von ihrem Pferd und sah sich um. So weit ihr Auge reichte, breitete sich wild zerklüftetes Canon-Land vor ihr aus. Im Norden sah sie im blauen Dunst den weit entfernten Buckel von Bamey Top, während sich im Nordosten das dunkle Massiv des Kaiparowits-Plateaus erhob. Direkt vor ihr lagen die schmalen, gefährlichen Serpentinen des auf der steilen Seite des Bergrückens nach unten führenden Pfades. Irgendwo unten in der Tiefe mussten Fiddelhead, Hurricane Deck und Beetlebum liegen.
»Sagen Sie mir bitte, dass wir da nicht hinuntermüssen«, bat Smithback.
Nora gab keine Antwort. Sorgfältig suchte sie den Boden des Bergkamms ab, konnte aber keine Hufspuren finden. Vermutlich hatte der hier oben ständig wehende Wind sie längst verwischt.
Auch auf dem Weg, den sie soeben zurückgelegt hatten, hatte nichts auf die Anwesenheit von Reitern hingewiesen. Nora fragte sich, wie die mysteriösen Pferdemörder es nur geschafft hatten, so wenige Spuren zu hinterlassen.
Nora dachte an den bevorstehenden Abstieg. Die grauenvolle Erinnerung daran, wie sie sich, mit den Beinen in der Luft zappelnd, mit letzter Kraft am Rand der Klippe festgekrallt hatte, ließ sie einen Augenblick erschauern. Sie rieb sich die Fingerspitzen, die jetzt nicht mehr bandagiert waren, ihr aber immer noch etwas wehtaten. »Ich gehe erst einmal zu Fuß nach Spuren suchen«, sagte Nora zu Smithback. »Warten Sie so lange hier.«
»Ich tue alles, was Sie wollen«, entgegnete Smithback. »Nur hetzen Sie mich nicht diesen Pfad hinab. Ich kann mir kaum eine üblere Weise vorstellen, um einen Berg hinunter zukommen. Außer einen Absturz natürlich. Aber der wäre wenigstens etwas schneller.«
Nora begann vorsichtig den Weg hinabzusteigen. Der erste Teil wies keinerlei Spuren von Reitern auf, was allerdings zu erwarten gewesen war, da er aus reinem Fels bestand. Dann aber kam Nora an eine Stelle, an der loses Geröll den Pfad bedeckte, und hier zeichnete sich auf einem kleinen, sandigen Fleck ganz deutlich ein frischer Hufabdruck ab. Er stammte von einem unbeschlagenen Pferd.
»Heißt das, dass es jetzt wirklich ernst wird?«, fragte Smithback wenig begeistert, als Nora ihm von ihrer Entdeckung berichtete.
»Ja«, antwortete Nora. »Swire hat keine Halluzinationen gehabt. Hier oben war wirklich ein Reiter.«
Sie atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie Arbuckles am Zügel nahm und abermals begann, behutsam nach unten zu steigen. Am Anfang des Pfades scheute das Pferd, ließ sich dann aber von Noras entschlossenen Worten wieder in Bewegung setzen. Smithback folgte ihr .mit Companero. Während ihr von hinten das Schnauben der Pferde und das gedämpfte Geräusch von unbeschlagenen Hufen auf hartem Fels an die Ohren drang, wandte Nora nicht eine Sekunde lang den Blick von dem steilen Pfad. Dabei bemühte sie sich,
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