Thunderhead - Schlucht des Verderbens
als hättest du seit meinem letzten Besuch deine Wohnung ein wenig umdekoriert«, meinte Nora. »Dieser Riss in der Wand da zum Beispiel ist neu.« Sie deutete auf einen breiten Spalt im Verputz, der an einer Wand von der Decke bis zum Boden lief.
»Das war mein Nachbar«, antwortete Skip. »Leider hat er nicht denselben Musikgeschmack wie ich und hat gegen die Wand getreten, der alte Spießer. Du musst mal mit deiner Oboe kommen, das macht ihn bestimmt fuchsteufelswild. Aber jetzt erzähl mir mal, wieso du es dir auf einmal wegen der Ranch anders überlegt hast. Ich dachte schon, du würdest bis zum jüngsten Tag an der alten Bruchbude festhalten.« Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Einmachglas.
»Gestern Abend ist mir da draußen etwas Seltsames passiert«, sagte Nora und drehte die Stereoanlage leiser.
»Tatsächlich?«, fragte Skip ohne wirkliches Interesse. »Was war denn los? Haben wieder ein paar Kids die Sau rausgelassen?«
Nora sah ihn durchdringend an. »Ich wurde angegriffen«, erwiderte sie.
Skip setzte sich auf, und der mürrische Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. »Wie bitte? Von wem denn?«
»Von irgendwelchen Typen, die sich als Tiere verkleidet hatten. Das glaube ich zumindest, aber ganz sicher bin ich mir nicht.«
»Und sie haben dich angegriffen! Bist du denn verletzt?« Skips
Gesicht lief vor Zorn und Sorge um Nora noch röter an. Obwohl er als jüngerer Bruder ihre schwesterliche Fürsorge vehement ablehnte, hatte er selbst einen ausgeprägten Beschützerinstinkt ihr gegenüber.
»Teresa kam mit der Schrotflinte und hat mich gerettet. Bis auf ein paar Kratzer am Arm ist mir nichts passiert.«
Skip ließ sich zurück aufs Sofa sinken. Sein Zorn war ebenso rasch verraucht, wie er in ihm aufgewallt war. »Hat Teresa die Scheißkerle wenigstens ordentlich voll Blei gepumpt?«
»Nein. Sie haben sich aus dem Staub gemacht.«
»Schade. Hast du die Polizei gerufen?«
»Nein. Was hätte ich der denn schon erzählen können? Nicht einmal Teresa hat mir die Geschichte geglaubt, und die Polizei hätte das erst recht nicht. Die hätten mich wahrscheinlich für verrückt gehalten.«
»War wohl besser so.« Skip hatte der Polizei noch nie getraut. »Was hatten die Typen denn auf der Ranch zu suchen?«
Nora zögerte mit einer Antwort. Selbst als sie an Skips Tür geklopft hatte, war sie sich noch nicht sicher gewesen, ob sie ihm von dem Brief erzählen sollte oder nicht. Der Schreck des vergangenen Abends und das Erstaunen über die Zeilen ihres Vaters steckten ihr noch immer in den Knochen. Wie würde Skip darauf reagieren?
»Sie haben nach einem Brief gesucht«, sagte sie schließlich.
»Was für einen Brief denn?«
»Diesen hier, glaube ich.« Vorsichtig zog Nora den vergilbten Umschlag aus der Brusttasche ihres Hemdes und legte ihn auf den Tisch. Skip nahm ihn und pfiff leise durch die Zähne. Dann las er schweigend den Brief. Nora konnte die Uhr in der Küche ticken hören. Von draußen drang gedämpftes Hupen herein, und irgendetwas raschelte in der Spüle. Sie spürte das Schlagen ihres Herzens.
Schließlich legte Skip den Brief wieder auf den Tisch. »Wo hast du den her?«, fragte er, Finger und Blick noch immer auf dem Umschlag.
»Er war in unserem alten Briefkasten. Irgendjemand muss ihn vor fünf Wochen aufgegeben haben. Weil bei den neuen Briefkästen keiner mehr für unsere Ranch dabei ist, hat ihn der Postbote wohl in den alten Kasten gesteckt.«
Skip sah seine Schwester an. »Großer Gott«, sagte er leise, und seine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen.
»Aber wer auch immer diesen Brief abgeschickt hat, hätte doch auch Dads Leiche finden müssen...« Skip schluckte schwer und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Oder glaubst du etwa, dass er noch am Leben ist?«
»Nein. Das ist völlig ausgeschlossen. Er hätte sich ganz bestimmt bei uns gemeldet, Skip. Dad hat uns geliebt.«
»Aber dieser Brief...«
»Wurde vor sechzehn Jahren geschrieben, das dürfen wir nicht vergessen. Doch nun haben wir wenigstens einen Hinweis, wo Dad möglicherweise gestorben ist. Vielleicht können wir jetzt herausfinden, was ihm zugestoßen ist.«
Skip hatte die ganze Zeit über die Finger auf den Brief gepresst, als wolle er dieses unerwartete neue Bindeglied zu seinem Vater nicht mehr loslassen. Bei Noras letzten Worten aber zog er plötzlich seine Hand zurück und ließ sich ins Sofa sinken. »Wenn diese Typen auf der Ranch wirklich nach dem Brief gesucht haben«, sagte
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