Thunderhead - Schlucht des Verderbens
einen zurückhaltenden Ausdruck an. »Das tut er bestimmt.«
»Das ist ja toll! Dann ruf ihn doch gleich an und...«
Ein Blick von Skip ließ Nora verstummen. »Das kann ich nicht«, sagte er.
»Wieso nicht?«
»Er mag mich nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Nora, der in letzter Zeit aufgefallen war, dass ziemlich viele Leute ihren Bruder nicht mochten.
»Nun, er war mit einer Studentin befreundet, einem echt hübschen Mädchen, und ich...« Skip errötete.
Nora schüttelte den Kopf. »Erspar mir den Rest.«
Skip nahm den gelben Mescalwurm und drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Tut mir Leid. Wenn du was von Watkins willst, musst du ihn schon selber anrufen.«
5
N ora saß an einem Schreibtisch im institutseigenen Labor zur Analyse von Artefakten. Vor ihr lagen im Licht einer leise surrenden Neonlampe sechs Plastikbeutel voller Tonscherben, die alle mit schwarzem Marker als Rio puerco, Schicht I gekennzeichnet waren. In einem Schrank neben dem Tisch standen, sorgfältig zwischen Schaumstoff gepackt, vier weitere Beutel mit der Aufschrift Schicht II und einer mit der Aufschrift Schicht III. Insgesamt waren es fast fünfzig Kilo Tonscherben, die darauf warteten, von Nora untersucht zu werden.
Nora seufzte. Sie wusste, dass sie für ihren Bericht über die Ausgrabung am Rio Puerco jede dieser Scherben begutachten und klassifizieren musste. Und nach den Scherben kamen die Steinwerkzeuge und Pfeilspitzen sowie die Knochen- und Holzkohlenstücke, die Pollen und sogar die Überreste von Haaren, die alle von ihr gesichtet werden mussten. Sie öffnete den ersten Beutel, holte mit einer großen Pinzette die Scherben heraus und legte sie vor sich auf den weißen Tisch. Dann blickte sie hinauf zu dem winzigen vergitterten Fenster und sah ein Stück einer weißen Wolke am blauen Himmel vorbeiziehen. Man kommt sich ja wie in einem gottverdammten Gefängnis vor, dachte sie bitter. Dann wandte sie sich dem Bildschirm neben ihr zu, auf dem das Formular zur Dateneingabe zu sehen war.
TW-1041
Screen 25
SANTA FE ARCHAEOLOGICAL INSTITUTE Kontextprotokoll / Datenbank für Artefakte
Ausgrabungsstätte Nr.: Ausgrabungsbuch Nr.:
Gebiet/Sektion:
Planquadrat:
Plan Nr.:
Kontext Code:
Neuzugangsnr.:
Schicht/Stratum:
Ordnungsnr.:
Trinomische Benennung:
Herkunft:
Ausgrabungsdatum :
Aufgenommen durch:
Beutel Nr./von:
Beschreibung des Artifakts (maximal 4096 Zeichen):
VERTRAULICH - KOPIEREN VERBOTEN
Natürlich wusste Nora genau, warum diese Art von statistischer Erfassung so wichtig war, aber trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass man sich unter Murray Blakewoods Leitung am Institut viel zu sehr der Typologie widmete und dabei neueren Entwicklungen wie der Ethnoarchäologie, der kontextuellen Archäologie und der Molekulararchäologie ebenso verschloss wie dem Kulturmanagement.
Sie nahm ihre handschriftlichen Aufzeichnungen zur Hand, die sie am Ausgrabungsort angefertigt hatte, und begann die Informationen daraus in das Datenblatt auf dem Bildschirm zu übertragen: 46 Mesa Verde EAV, 23 Chaco/McElmo, 2 St. John's Poly, 1 Soc-coro B AV...
oder war das auch ein Mesa/Verde BAV? Sie zog eine Schublade auf und suchte vergeblich nach einer Lupe. Zum Teufel damit, dachte sie und legte die Scherbe beiseite.
Als Nächstes nahm sie ein kleines, glänzendes Stück Ton in die Hand, das sich vermutlich einmal am Rand einer Schüssel befunden hatte. Das gefällt mir schon besser, dachte Nora. Beim Anblick der winzigen Scherbe fiel ihr ein, wie sie sie damals gefunden hatte. Sie war gerade neben einem Tamariskengestrüpp gesessen und hatte einen zerfallenen Korb mit Polyvinylacetat stabilisiert, als ihr Assistent Bruce Jenkins plötzlich einen lauten Schrei ausgestoßen hatte. »Das ist ja eine Chaco Schwarz-auf-Gelb Goldglimmerkeramik!«, hatte er gerufen. »Ich flippe aus!« Nora wusste noch gut, welche Mischung aus Begeisterung und Neid dieses kleine Stück gebrannten Tons in ihr hervorgerufen hatte. Und jetzt lag es hier vor ihr, einsam und verlassen in seinem viel zu großen Plastikbeutel. Warum verwendete man hier am Institut nicht mehr Energie darauf herauszufinden, weshalb diese spezielle Keramik nur so selten vorkam? Bisher hatte man noch kein einziges komplettes Gefäß in diesem Stil gefunden, und die Frage, wie und wo diese Töpferwaren hergestellt wurden, gab noch immer Rätsel auf. Warum kümmerte man sich nicht um so
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