Thursday Next 02 - In einem anderen Buch
Ma'am.«
Miss Havisham seufzte tief und wandte sich an das junge Mädchen, das Pip die meiste Zeit angestarrt hatte; sein Unbehagen in der fremden Umgebung schien sie äußerst zu amüsieren.
»Estella, bring ihn hinunter. Gib ihm etwas zu essen. Lass ihn herumstreifen und sich umsehen, während er isst. Geh, Pip.«
Die beiden jungen Leute verließen den verdunkelten Raum, und ich sah zu, wie Miss Havisham erst auf den Boden starrte und dann auf die halb gefüllten Truhen mit ihrer vergilbten Aussteuer. Sie zog ihren Schleier herunter, fuhr sich mit den Fingern durch ihr ergrautes Haar und streifte ihre Brautschuhe ab. Sie sah sich vorsichtig um, prüfte, ob die Tür geschlossen war, und öffnete dann eine Kommode, die zu meiner Überraschung nicht mit Gegenständen ihres kümmerlichen Lebens, sondern mit erstaunlichen Luxusartikeln gefüllt war, die ihr Dasein offenbar erträglicher machen sollten. Unter anderem sah ich einen Sony Walkman, einen Stapel National Geographics, ein paar Romane von Daphne Farquitt und einen Tischtennisschläger, an dem ein kleiner Ball mit einem Gummiband festgemacht war. Sie wühlte noch ein bisschen tiefer und zog ein paar Turnschuhe aus der Schublade, die sie mit einem Seufzer der Erleichterung anzog. Sie wollte gerade die Schnürsenkel festziehen, als ich mein Gewicht verlagerte und dabei an einen kleinen Tisch stieß. Miss Havisham hob den Kopf und starrte in meine Richtung. Ihre Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen.
»Wer ist da?« fragte sie scharf. »Bist du das, Estella?«
Mich weiter zu verstecken, schien mir keine gute Idee, deshalb trat ich sogleich aus dem Schatten. Sie musterte mich mit kritischen Augen.
»Wie heißt du, mein Kind?« fragte sie streng.
»Thursday Next, Ma'am.«
»Ah!« sagte sie. »Das Next-Mädel. Hast ganz schön lange gebraucht, um den Weg hierher zu finden, nicht wahr?«
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Das lohnt sich nicht, Mädel. Leidtun ist Zeitverschwendung, das kannst du mir glauben. Wenn du dich damals ein bisschen mehr angestrengt hättest, als du Mrs Nakijima in Haworth begegnet bist, hättest du längst hier bei uns in der Jurisfiktion sein können! Aber - ach, da nutzen ja keine Ermahnungen!«
»Ich wusste ja nicht -«
»Ich nehme nur selten Lehrlinge«, sagte sie und überging meinen Einwand vollkommen, »aber man wollte dich der Herzkönigin zuteilen, und das konnte ich natürlich nicht zulassen. Ich nehme an, du weißt, dass ich ein Problem mit der Herzkönigin habe?«
»Nein, ich -«
»Die Hälfte von dem, was sie sagt, ist verrückt, und die andere Hälfte gehört nicht zur Sache. Mrs Nakijima hat dich sehr empfohlen, aber sie hat sich auch früher schon manchmal geirrt. Wenn du irgendwelchen Ärger machst, fliegst du hier raus, ehe du einmal ›Ketchup‹ gesagt hast. Kannst du Schnürsenkel binden?«
Also kniete ich mich dort in Satis House auf den Boden und band Miss Havisham ihre Turnschuhe zu. Es wäre irgendwie ungehobelt gewesen, ihr den kleinen Gefallen nicht zu erweisen, und es machte mir wirklich nichts aus. Wenn Miss Havisham meine Lehrerin war, würde ich tun müssen, was sie mir sagte. Ohne ihre Hilfe würde ich nicht in den ›Raben‹ hineinkommen, so viel war klar.
»Es gibt drei einfache Regeln, wenn du bei mir bleiben willst«, sagte Miss Havisham in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. »Nummer Eins: Du tust genau, was ich sage. Nummer Zwei: Du wirst dir und mir jegliches Mitleid ersparen. Ich brauche keinerlei Hilfe. Was ich mir und anderen antue, ist ausschließlich meine Sache. Verstehst du?«
»Und was ist mit der dritten Regel?«
»Alles zu seiner Zeit. Ich werde dich Thursday nennen, und du nennst mich Miss Havisham, wenn wir zu zweit sind. In Gesellschaft erwarte ich, dass du mich mit Ma'am anredest. Wenn ich dich rufe - und das kann jederzeit sein -, erwarte ich, dass du springst. Lediglich Beerdigungen, Geburten oder Vivaldi-Konzerte haben Vorrang. Verstanden?«
»Ja, Miss Havisham.«
Ich erhob mich, und sie hielt eine Kerze vor mein Gesicht, um mich genauer zu mustern. Trotz ihrer bleichen Gesichtsfarbe glänzten ihre Augen recht hell, und sie war auch keineswegs so alt, wie ich gedacht hatte; alles, was ihr fehlte, waren ein paar anständige Mahlzeiten und viel frische Luft. Ich wollte fast schon etwas Aufmunterndes sagen, aber ihre eiserne Persönlichkeit bremste mich gerade noch rechtzeitig. Ich fühlte mich, als wäre ich gerade in die Schule gekommen und stünde zum
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