Thursday Next 02 - In einem anderen Buch
ersten Mal meiner künftigen Lehrerin gegenüber.
»Intelligente Augen«, murmelte sie. »Ehrlich und engagiert. Erschreckend selbstgerecht allerdings. Bist du verheiratet?«
»Ja -«, sagte ich. »Das heißt: nein.«
»Komm schon!« sagte Miss Havisham ärgerlich. »Das ist doch eine einfache Frage!«
»Ich war verheiratet«, sagte ich schließlich.
»Ist er gestorben?«
»Nein -«, murmelte ich. »Das heißt: ja.«
»Ich werde es künftig mit schwierigen Fragen versuchen«, erklärte Miss Havisham, »da du die einfachen offenbar nicht beantworten kannst. Hast du schon jemand vom Jurisfiktion- Personal kennen gelernt?«
»Ich kenne Mr Snell - und den Kater.«
»Einer so unbrauchbar wie der andere«, erklärte sie kurz und bündig. »In der Jurisfiktion sind alle entweder Scharlatane oder Dummköpfe - außer der Herzkönigin, die ist beides. Wahrscheinlich ist es das beste, wenn wir mal nach Norland Park gehen, da können wir alle treffen.«
»Nach Norland? Jane Austen?
Verstand und Gefühl?«
Aber Miss Havisham war schon einen Schritt weiter. Sie fasste mich am Arm, um einen Blick auf meine Uhr zu werfen, und ehe ich's mich versah, waren wir nicht mehr in Satis House, sondern standen in der Bibliothek. Während ich mich noch an diesen jähen Ortswechsel zu gewöhnen versuchte, las Miss Havisham etwas aus einem Buch vor, das sie aus dem Regal genommen hatte. Wieder wurden wir leicht gerüttelt, und plötzlich standen wir irgendwo in einer kleinen Wohnküche.
»Was war denn das jetzt?« fragte ich alarmiert. Ich war an diese plötzlichen Reisen von einem Buch zum anderen einfach noch nicht gewöhnt, aber Miss Havisham schien sich gar nichts dabei zu denken.
»Das war die Standardform eines Buch-zu-Buch-Transfers«, sagte sie. »Wenn du solo springst, geht das auch ohne den Umweg über die Bibliothek. Das ist sehr viel angenehmer. Die banalen Betrachtungen des Katers können einem schon auf den Geist gehen. Aber da ich gegenwärtig mit dir reise, ist der kurze Umweg über die Bibliothek leider nötig. Wir sind jetzt in der Backstory von Kafkas
Prozess.
Im Nebenzimmer findet gerade Josef K.s Anhörung statt. Du bist danach dran.«
»Oh«, sagte ich. »Schön, dass ich das auch schon erfahre.«
Der Sarkasmus ging an Miss Havisham spurlos vorbei, aber das war vielleicht auch ganz gut so. Ich sah mich um. Der Raum war nur spärlich möbliert. Ein Waschtrog stand in der Mitte, und nach den Geräuschen zu urteilen, schien im Nebenzimmer gerade eine politische Versammlung abgehalten zu werden. Die Tür öffnete sich, eine Frau kam aus dem Gerichtssaal, glättete ihre Röcke, machte einen Knicks und kehrte an ihre Wäsche zurück.
»Guten Morgen, Miss Havisham«, sagte sie höflich.
»Guten Morgen, Esther«, erwiderte diese. »Ich hab dir was mitgebracht.« Miss Havisham gab ihr eine Tüte mit Lakritzen und fragte: »Sind wir zu früh dran?«
Hinter der Tür ertönte brüllendes Gelächter, das sich alsbald in aufgeregte Diskussionen auflöste.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte die Waschfrau. »Snell und Hopkins sind beide schon drin. Möchten Sie vielleicht Platz nehmen?«
Miss Havisham setzte sich, aber ich blieb lieber stehen.
»Ich hoffe, Snell weiß, was er tut«, murmelte Miss Havisham düster. »Der Untersuchungsrichter ist eine etwas unbekannte Größe.«
Der Beifall und das Gelächter im Raum nebenan hörten auf und es wurde plötzlich ganz still. Man hörte, wie jemand an der Klinke hantierte. Eine tiefe Stimme auf der anderen Seite der Tür sagte: »Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass Sie sich heute - es dürfte Ihnen noch nicht zu Bewusstsein gekommen sein - des Vorteils beraubt haben, den ein Verhör für den Verhafteten in jedem Falle bedeutet.«
Ich sah Miss Havisham besorgt an, aber sie schüttelte nur den Kopf, als wolle sie mir damit sagen, dass es keinen Grund gebe, mir Sorgen zu machen.
»Ihr Lumpen«, rief eine andere Stimme, immer noch hinter der Tür. »Ich schenke euch alle Verhöre!«
Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann mit schwarzem Anzug und rotem Gesicht stürzte vor Wut zitternd aus dem Gerichtssaal und rannte die Treppe hinunter. Der Mann, der mit ihm gesprochen hatte, der Untersuchungsrichter, wie ich vermutete, schüttelte bedauernd den Kopf und die Versammelten begannen über Josef K.s Ausbruch zu reden. Der Richter, ein dicker, schnaufender Mann, sah mich an und fragte: »Sie sind Thursday N.?«
»Ja, Euer Ehren.«
»Sie kommen zu
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