Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
einer Hand hinab. »Danke. Danke.« Ihre Stimme quoll über vor Gefühlen. Die Mers sprangen einer nach dem anderen hoch, berührten ihre ausgestreckte Hand, dann verschwanden sie wieder. im Wasser. »Es ist fast, als wüßten sie Bescheid.« Sie richtete sich wieder auf, ihre Hand war kalt. Sie streifte den Handschuh wieder über und steckte die Hand in die Tasche der Parka.
»Vielleicht ist das so.« Ngenet lächelte sie an. »Vielleicht wissen sie sogar irgendwie, daß sie eine Sibylle gerettet haben und keine gewöhnliche, unglückliche Schiffbrüchige. Ich habe sie noch nie so für eine Fremde tanzen sehen, wie sie es für dich tun. Es sind außergewöhnliche Wesen«, beantwortete er die Frage in ihren Augen.
»Wesen?« Sie erkannte, wieviel er mit einem einzigen Wort gesagt hatte. Seit ihrer Rettung hatte sie vieles über Ngenet erfahren, über seine Beziehung zu den Mers, seinen Respekt vor ihnen, seine Sorge um ihre Sicherheit. Es existierte sogar eine ansatzweise vokale und gestikulierende Verständigung zwischen Mer und Mensch, durch sie hatten sie sich auf die Suche gemacht und Ngenet rechtzeitig zum Unfallort geführt. Aber sie hatte nicht damit gerechnet ... »Du meinst ... menschliche Wesen?« Sie schüttelte errötend den Kopf. »Ich meine intelligente Wesen, so wie Silky?« Sie sah von Gesicht zu Gesicht.
»Würde es dir so schwerfallen, daran zu glauben?« Halb Frage, halb Herausforderung. Seine Stimme hatte eine seltsame Intensität.
»Nein. Aber ich hätte nie geglaubt ... ich hätte nie geglaubt ...«
Nie geglaubt, daß ich einmal einen Fremden von einer anderen Welt treffen würde, nie geglaubt, daß er nicht menschlich sein könnte, nie geglaubt, daß eine Sibylle Fragen wie diese beantworten könnte.
»Du ... du bittest mich um ... um eine Antwort ...?« Ihre Stimme klang schrill und angespannt. Sie spürte, wie sie abglitt .. .
»Mond?«
Wie sie abglitt ...
Eingabe.
30
»Was habe ich gesagt?«
hatte sie ihn später gefragt!
»Du hast mir von den Mers erzählt.«
Und Ngenet hatte gelächelt.
Mond wiederholte diese Worte im Geiste, während sie durch die blaugrüne Wasserwelt schwamm und sich so gleichmäßig wie möglich bewegte. Die flüssige Atmosphäre gab nach und leistete Widerstand, gab nach und leistete Widerstand, während sie die Hände bewegte. Das war Ngenets Geschenk an sie, weil sie seine unausgesprochene Frage beantwortet hatte, um seine Vermutungen zu bestätigen: Endlich wußte sie, wie es war, ganz dem Meer zu gehören, und nicht ewig auf dem gefährlichen Drahtseil zwischen Wasser und Himmel balancieren zu müssen auf der dünnen Trennlinie zwischen zwei Welten.
Sie lauschte dem rhythmischen, beruhigenden Einströmen von Luft, wann immer sie Sauerstoff benötigte, die mit etwas schalem Geschmack durch das Regulationsventil einströmte. In der Ferne waren die unergründlichen Tiefen des Meeres nebelverhangen und trüb von aufgewirbeltem Sand. Doch hier, in der seichten Bucht, konnte sie ganz deutlich sehen – sie sah die makellose Schönheit von Silky und den Mers, ihren Gefährten, deren stromlinienförmige Körper von unsichtbaren Kräften vorangebracht wurden.
»Darum also singt ihr!« Ihre lachende Stimme hallte durch den Mundlautsprecher zu ihnen hinaus, obwohl sie nicht mehr wahrnehmen konnten als Luftblasen.
Weil man seiner Freude einfach Ausdruck verleihen muß!
In den Pausen zwischen ihren Atemzügen konnte sie das Lied der Mers hören, die Sirenengesänge, von denen sie bisher nur in Sagen und Legenden gehört hatte: ein Klangteppich aus Pfeiftönen, Wimmern und Bellen, glöckchenähnlichem Klingen, Seufzen und Schreien – einzelne, zusammenhanglose Geräusche, die sich zusammengenommen zu einem Chor verdichteten, der der Meeresmutter Lobeshymnen sang. Manchmal dauerten ihre Lieder stundenlang an – wenn sie wieder und immer wieder von ihren zeitlosen, über Jahrhunderte unveränderten Schöpfern angestimmt wurden.
Das wußte sie, obwohl ihre Komplexität außerhalb ihrer Fähigkeit lag, ein Lied vom anderen zu unterscheiden, und sie nicht sicher war, ob sie alle im Sinne eines menschlichen Liedes eine Bedeutung hatten ... Sie wußte das, weil sie es sich selbst gesagt hatte.
Als sie aus ihrem unerwarteten Transfer erwacht war, hatte sie Ngenet gesehen, der ihre Hände hielt, tiefempfundene Gefühle huschten über sein bronzefarbenes Gesicht. Als sie wieder klar sehen konnte, hatte er ihre behandschuhten Hände an die Lippen geführt und sie
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