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Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin

Titel: Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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Brücke näherte, drang das Sibyllenlied wieder auf sie ein und verlangsamte ihren Schritt, lullte ihre Ängste ein und dämpfte ihren Überlebensinstinkt.
Nein!
Sie erstarrte und ließ ihrem Entsetzen freien Lauf für einen Gegenangriff, ehe das Lied wieder ihren Verstand übermannen konnte. Doch gerade als sie weiterging, sah sie, wie alle Winter vor ihr dieselben länglichen Gegenstände in die Höhe hielten
– Flöten!
Um die Winde zu kontrollieren ... Und nun endlich verstand sie: Sie wollten den Wind gegen sie aufbringen, so würde sie sterben, ohne daß eine menschliche Hand mit ihrem Blut in Berührung kam.
    Mond warf sich flach auf die Brücke, als der Chor der Flöten laut wurde und ihre Zone ruhiger Luft zerschellte. Der Wind blies über sie dahin und zerrte an ihr. Doch in der Mitte des Windes war das Lied der Sibyllen - wie die stille Zone im Zentrum des Sturms, die stille Klarheit eines seltsamen Wahnsinns erfüllte ihren Verstand. Hypnotisiert und paralysiert wechselte sie in eine Zuflucht über, die in einer anderen Existenzebene lag .. .
    Warum? Warum werde ich hier gerufen?
»Wie lautet die Antwort?« hörte sie ihre eigene Stimme laut kreischen. »Wie lautet die Antwort?«
Du kannst alle Fragen beantworten, außer einer,
hatte
    Elsevier zu ihr gesagt. Nicht
Was ist das Leben?,
auch nicht
Gibt es einen Gott? ...
Die eine Frage, deren Antwort verboten war, lautete:
Wo ist unser Quellpunkt?
Und in diesem Augenblick, hart am Abgrund des Irrsinns oder des Todes, erkannte sie, daß die Frage beantwortet worden war, daß sie wieder von der Macht auserwählt worden war, die in ihrem Verstand lebte:
Quellpunkt, Brunnenschacht, Quellmündung ... hier, hier, hier!
Unter diesem Schacht, der im Meer mündete, unter dieser nadelförmigen Stadt, die man in die Karte der Zeit gestochen hatte, unter der schützenden Meereshaut einer Wasserwelt, lag die Sibyllenmaschinerie verborgen. Und sie allein würde das wissen. Sie spürte, wie ihr Geist unter dem Ansturm dieser letzten Enthüllung nachgab und in den Brunnen der Wahrheit stürzte. Sie schrie auf, als ihr Körper die Kontrolle verlor, um ihm hinunterzufolgen ...
     
    Sie kam wie eine benommene Träumerin wieder zu sich, lag auf dem Steg und atmete keuchend die stille Luft ...
Die stille Luft!
Sie preßte die Hand auf den Mund und erhob sich langsam auf die Knie. Der Wind hatte aufgehört, nur noch ein friedliches Singen war rings um sie her zu hören. Die Winter standen mit aufgerissenen Mündern am Ende der Brücke, die nutzlosen Flöten entglitten ihren Fingern. Sie wagte es, zu den Windvorhängen zu sehen, die schlaff im ruhig gewordenen Meer hingen, dann zu den Sturmwällen. Die Wälle waren geschlossen, um die eisig kalten Winde von außerhalb fernzuhalten – die einzigen Zugänge zum Brunnenschacht, die der Wind hier in der Stadt hatte, im Herzen Karbunkels. Sie ließ sich wieder nach vorne sinken und preßte dankbar die Stirn gegen den Steg.
    Dann erhob sie sich unsicher und ging ihren Weg über die Brücke. Um der Zuschauer willen ging sie langsam. Aber auch, um ihre zitternden Beine nicht zu sehr zu belasten. Entsetzen und Ehrfurcht waren in den Gesichtern der Adligen zu lesen. Sie setzte eine grimmig-trotzige Miene auf, um sich den Durchgang zu erzwingen.
    Und tatsächlich wichen auch einige zurück, aber es waren auch welche dabei, die noch zorniger wurden, und die haßerfüllt und wütend das Sommermädchen betrachteten, das das Gesicht ihrer Königin hatte und anscheinend die Macht einer überlegenen Göttin. Darunter sah sie auch eine Stange, die von einem eisernen Dornenring gekrönt wurde, der Hexenkragen, der Danaquil Lus Kehle aufgeschlitzt hatte. Der Kragen wurde gesenkt, um zu verhindern, daß sie die Brücke verließ. »Knie nieder, Sibylle, oder stürze in den Schacht!« Die Frau mit dem Juwelenturban, die das zu ihr gesagt hatte, streckte ihr den Stab entgegen. Mond wich einen Schritt zurück, ihre Hände verkrampften sich an ihren Seiten.
    »Laßt mich passieren, sonst ...« Doch noch während sie sprach, drehten die Adligen sich um, und sie hörte das Geräusch vieler Füße auf dem Boden des Korridors, der zum Saal führte. Und plötzlich war der Freiraum hinter den Adligen mit Gestalten erfüllt – doch diese trugen handgewebte Kleidung und Kleeshaut –
Sommer!
Ihre Gesichter waren so mörderisch wie noch vor einer Sekunde jedes Wintergesicht gewesen war. Sie alle trugen Messer und Harpunen, und plötzlich sahen ihre Gesichter sie

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