Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin

Titel: Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
Vom Netzwerk:
daß es ihr auch gefiel, ihre Opfer schwitzen zu sehen.
    Jerusha erkannte Kirad Set, einen der Ältesten der Familie Wayaways, einer der Favoriten der Königin. Gerüchten zufolge hatte er schon vier Besuche des Gesandten erlebt, obwohl sein Gesicht unter dem modischen Turban kaum älter als das eines Jungen war. »Ältester.« Jerusha salutierte steif, da ihr die Krähenfüßchen um ihre eigenen Augen herum schmerzlich bewußt wurden. Noch deutlicher hörte sie aber nun den klagenden Ruf des Korridors hinter sich, der wie das hungrige Lachen der reuelosen Verdammten klang.
Wer konnte nur so etwas erbaut haben?
Das hatte sie sich jedesmal gefragt, wenn sie hierher gekommen war, und auch, ob das Heulen des Windes nicht im Grunde genommen die Stimme der Baumeisters war, jener verlorenen Urahnen, die diese heimgesuchte Stadt im Norden erträumt und erbaut hatten. Niemand in ihrer Bekanntschaft wußte zu sagen, was sie gewesen waren oder hier getan hatten, bevor das Imperium zusammengebrochen war, verglichen mit dem die gegenwärtige Hegemonie zur Bedeutungslosigkeit verblaßte.
    Wäre sie anderswo gewesen, sie hätte sich eine Sibylle gesucht und versucht, eine Antwort zu erhalten, obwohl diese wahrscheinlich obskur und unverständlich ausgefallen wäre. Sogar hier auf Tiamat zogen die Sibyllen auf den entferntesten Inseln umher wie fahrende Okkultistinnen und dachten, sie sprächen mit der Stimme der Meeresmutter. Doch das Wissen war real und sogar hier noch intakt, obwohl die Tiamater die Wahrheit dahinter vergessen hatten, wie auch die Gründe für die Erbauung Karbunkels. Nach den Gesetzen der Hegemonie durfte es in Karbunkel keine Sibyllen geben – wobei der Abscheu des Wintervolkes vor allem Primitiven sehr zugute kam. Eine berechnende und äußerst erfolgreiche Hegemoniepropaganda hielt sie in dem Glauben, daß es sich um nicht mehr als eine Kombination aus abergläubischem Hokuspokus und aus Krankheit entstandenem Irrsinn handelte. Nicht einmal die Hegemonie maßte es sich an, die Sibyllen von einem bewohnten Planeten zu vertreiben, obwohl man natürlich dafür sorgen konnte, daß sie kein Gehör fanden. Sibyllen waren die letzten Träger der Weisheit des Alten Imperiums, die eigentlich der neuen Zivilisation, die sich aus der Asche entwickelte, ein Schlüssel zu dessen untergegangenen Geheimnissen hätten sein sollen. Und wenn es etwas gab, das die Hegemonie auf gar keinen Fall wollte, dann war es die Tatsache, daß diese Welt sich eines Tages auf die eigenen Füße stellen und ihr das Wasser des Lebens verweigern würde.
    Plötzlich erinnerte Jerusha sich lebhaft an den einzigen Sibyl, den sie jemals in Karbunkel angetroffen hatte – das war vor mehr als zehn Jahren gewesen, kurze Zeit nach Antritt ihres ersten Postens. Sie war mit ihm – denn es war ein Mann gewesen – nur deshalb zusammengetroffen, weil man sie ausgesandt hatte, seine Verbannung aus der Stadt zu überwachen. Sie war mit der Menge gegangen, die ihren protestierenden und furchtsamen Mitbürger zu den Docks transportiert und in ein Boot verfrachtet hatte. Sie hatten ihm einen eisernen Hexenkragen mit Dornen an der Innenseite angelegt, und ihn mit Stöcken vor sich hergetrieben, als fürchteten sie sich vor Ansteckung.
    Doch dann hatten sie ihn, während des johlenden Zuges zum Hafen hinab, zu heftig gestoßen, und er war hingefallen. Die Dornen hatten ihm in die Kehle und die Wangen gestochen und die Haut aufgerissen. Das Blut des Sibyl, das zu vergießen die Menge so sorgsam hatte vermeiden wollen, perlte wie ein Juwelendiadem um seinen Hals und über sein Hemd (das Hemd war von tiefblauer Farbe gewesen, und die Schönheit des Kontrasts hatte ihr fast den Atem geraubt). Furchtsam, wie alle anderen, hatte sie zugesehen, wie er dasaß und seinen Nacken rieb, und sie hatte nichts getan, ihm zu helfen .. .
    Gundhalinu berührte zögernd ihren Ellbogen. Verlegen sah sie auf und blickte in das nachdenkliche Gesicht des Ältesten Wayaways. »Sind Sie bereit, Inspektor?«
    Sie nickte.
    Der Älteste nahm ein kleines Pfeifchen, das an einer Kette um seinen Hals hing, und schritt auf die Brücke hinaus. Jerusha folgte ihm mit starr geradeaus gerichtetem Blick, denn sie wußte, was sie unten sehen würde, blickte sie hinab, und wollte es nicht sehen: den entsetzlichen Schacht, den Zugang zum selbstversorgenden Kraftwerk der Stadt, das in dem ganzen Jahrtausend, seit die Hegemonie von seiner Existenz wußte, noch niemals hatte gewartet werden müssen.

Weitere Kostenlose Bücher