Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
dem Weg zum Eingang blieb sie wieder stehen und rüttelte Tor wach. »Wachen Sie auf, Winter! Die Dämmerung ist fast gekommen.«
Tor richtete sich auf und rieb sich elend und kläglich das Gesicht.
»Ich gehe jetzt hinunter zur Zeremonie der Veränderung.« Jerushas Stimme wurde sanfter. »Ich weiß nicht, ob Sie daran teilnehmen wollen. Wenn ja, dann können Sie mit uns kommen.«
Obwohl ich dir auch keinen Vorwurf machen würde, wenn du weiterschlafen wolltest.
Tor schüttelte den Kopf und streckte die Arme aus. Ihre Augen wurden klarer. »Ja ... schätze, ich werde schon mitkommen, nach allem. Ich kann schließlich nicht ewig hierbleiben, oder?« Eine rein rhetorische Frage. Sie stand auf und wandte sich an Pollux, der immer noch an derselben Stelle stand. »Ich geh mir jetzt das Ende der Welt ansehen, Polly. Es wird keine mehr geben. Und wenn ich es nicht selbst sehe, dann glaube ich es vielleicht nicht.«
»Leb wohl, Tor!« Seine Stimme klang dünner und ausgezehrter, als Jerusha in Erinnerung hatte. »Leb wohl!«
»Tschüs, Polly!« Ihr Mund zitterte. »Ich werde dich nicht vergessen. Glaub mir!«
»Ich glaube dir, Tor.« Der Polizeiroboter hob grüßend einen Arm.
»Guter Junge.« Sie wich langsam zurück.
Jerusha sah, daß Tor sich rasch über die Augen wischte, als sie die Station verließen.
54
Arienrhod nahm ihren Platz auf den dichten, weißen Pelzen im bootsförmigen Zeremonienfahrzeug ein, das im Palasthof parkte. Sie begegnete ihrer Rolle in dem Zeremoniell ruhig und beherrscht, mit der königlichen Präsenz von fast einhundertundfünfzig Jahren. Die Rufe und Mißfallensäußerungen der versammelten Sommer wurden um sie her laut, und auch, so unentrinnbar wie dieser Tod, die Klagelaute der Winter. Ihre gemeinsamen Laute klangen wie das Stöhnen und Ächzen des Schachtes, wo das Meer wartete ... wie das Meer heute auf sie wartete. Endlich würde der Hunger der Herrin befriedigt werden.
Starbuck hatte bereits auf den silbernen Pelzen Platz genommen. Er erinnerte mit seinem schwarzen Anzug und seiner schwarzen Maske an eine aus Obsidian gehauene Figur. Sie war überrascht, ihn vor ihr hier zu sehen.
Du warst schon immer ungeduldig, Geliebter, aber daß du ausgerechnet heute ungeduldig sein würdest.
Sie spürte Kälte in ihrem Inneren.
Denn ich bin es nicht. Ich bin es nicht.
»Guten Morgen, Starbuck. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.«
Er wandte den Kopf ab, als sie ihm in die Augen sehen wollte, sagte aber nichts.
»Du meinst also, du wirst mir niemals vergeben? Aber die Ewigkeit ist lang, Funke. Und wir werden eine Ewigkeit zusammensein.« Sie legte ihm einen Arm um die Schulter und spürte ihn zittern oder erschauern. Seine Schultern unter der gepolsterten Kleidung fühlten sich breiter an, als sie es in Erinnerung hatte.
Nur ein Junge, mit der Stärke eines Mannes – und seiner Schwäche.
Aber wenigstens werden wir sie ewig jung miteinander verbringen.
Und wieder versuchte sie, sich einzureden, daß sie lieber sterben wollte, als in einer Welt zu leben, in der sie arm und krank und alt sein würde .. .
Die Eskorte der Winteradligen versammelte sich um den Wagen, alle in formlose weiße Gewänder gehüllt und trugen weiße Masken, die ihren Familientotems nachgebildet waren. Ein halbes Dutzend davon nahm die Stränge auf, um das Fahrzeug zu ziehen, während der Rest, von dem jeder einen wertvollen Außenweltlergegenstand trug, einen menschlichen Vorhang um sie herum bildete, um sie wenigstens teilweise vom Anblick und den Anschuldigungen der Sommer abzuschirmen, die am Straßenrand standen und hin und wieder Eier oder faulige Früchte oder verwesende Fische nach ihr warfen. Ihre Positionen, dieser Ehrendienst, waren sowohl eine Ehre, als auch eine Strafe.
Sie drapierte ihren uralten Federnmantel, der mit den weißen Pelzen verschmolz. Es war der Mantel, den sie bei allen zeremoniellen Anlässen trug, den sie bisher bei jedem Duell um den Rang des Starbuck getragen hatte, eineinhalb Jahrhunderte lang. Darunter trug sie ein schlichtes, weißes Gewand. Weiß – die Farbe des Winters und der Trauer. Ihr Haar fiel frei über ihren Rücken, wie ein Schleier, der mit Diamanten und Saphiren durchsetzt ist. Sie trug keine Maske – sie war die einzige, die wirklich keine Maske trug –, damit auch jeder sehen konnte, daß sie die Schneekönigin war.
Ich bin die Schneekönigin.
Sie betrachtete zum letztenmal die reich verzierten Stadthäuser der Adligen und stellte sich vor, wie sie
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