Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
während es in seinem Gesicht vor Anspannung und Nervosität zuckte. Ein schmaler, glatter Streifen in der Wand war mit Symbolen bedeckt, und am Rand ragten, wie Tentakel, Maschinenteile heraus; wozu sie dienten, konnte Funke nicht einmal erraten, genauso-wenig wußte er mit Sicherheit, ob die Symbole überhaupt in der Sprache des Alten Imperiums abgefaßt waren. Seine Hand bewegte sich auf die einladend schimmernde Tafel zu, und er fragte sich, was wohl passieren mochte, wenn er die Symbole berührte und irgend etwas auslöste ...
»Nicht anfassen!« schnauzte Ngenet. »Wir hatten doch ausgemacht, daß wir nicht versuchen werden, etwas zu aktivieren. Du könntest den Lift aus Versehen wegschicken, und dann stecken wir hier fest ...«
Funke ließ die Hand wieder sinken und sah Ngenet an. »Das hier hat nichts mit der Kabine zu tun.«
Ngenet winkte ab. »Das kann man nicht wissen.«
»Die Kontrollen für die Kabine befinden sich an unserem Haltepunkt.«
Ngenet starrte ihn an. »Wie kommst du darauf?«
»Das erzählten mir die Forscher, die in Arienrhods Auftrag hier heruntergingen. Außerdem sah ich die Tafel, die Symbole darauf gleichen denen in der Kabine.«
Ngenets Miene glättete sich ein wenig. Er wandte sich ab, wie wenn er es nicht über sich bringen könnte, sich bei, Funke zu entschuldigen.
Funke nahm keine weitere Notiz von Ngenet, der ihm den Rücken zukehrte. Sie hatten wirklich keine Ahnung, wie diese Displays funktionierten – falls sie überhaupt eine Funktion hatten. Er gestand sich ein, daß sie tatsächlich übereingekommen waren, bei diesem ersten Ausflug lediglich Informationen zu sammeln.
Falls diese Symbole in irgendeiner Sprache des Alten Imperiums abgefaßt waren, so konnte eine Sibylle sie übersetzen. Funke bezähmte seine Ungeduld, und sie gingen auf dem Sims weiter.
Während er auf dem schmalen Steg balancierte, zu einer Seite eine glatte, lotrecht emporstrebende Wand, zur anderen den schieren Abgrund, der tief drunten im Meer mündete, fühlte er sich an etwas erinnert. Ein halbes Leben lang war es her, als er gemeinsam mit Mond eine Initiationsstätte der Sibyllen aufsuchte, und dabei einen gefährlichen Pfad entlangklettern mußte.
Er fragte sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn Mond damals umgekehrt und keine Sibylle geworden wäre; wenn sie sich erst gar nicht auf den Weg zu dieser Weihestätte gemacht hätten. Angenommen, Mond wäre niemals am Strand Clavally Bluestone Sommer begegnet; damals waren sie noch Kinder gewesen, und Mond hatte sich auf Anhieb in die Vorstellung verliebt, später einmal zur Sibylle auserkoren zu werden ...
Doch Mond war nie das Mädchen gewesen, für das man sie gehalten hatte ... nicht einmal das leibliche Kind ihrer Mutter war sie, sondern ein Klon Arienrhods ...
Fast hatten sie den Umfang der Grube halb umrundet; Funke schaute zurück auf die Kabine. Tammis' Gesicht war durch die Scheibe kaum zu erkennen; er stand immer noch in der Kapsel, die von dem Licht aus den Armaturen trübe beleuchtet wurde, und beobachtete ihn und Ngenet.
Sein Sohn ...
Funke blickte wieder auf seine Füße, er mußte achtgeben, wohin er trat. Ihrer aller Leben war wie eine Kette; er fragte sich, wie wohl alles gekommen wäre, wenn diese Kette irgendwann an irgendeiner Stelle gerissen wäre – hätte ihr Schicksal dann einen anderen Verlauf genommen? Hätte er dann zusammen mit Mond das friedvolle, ereignislose Leben geführt, wie sie es sich immer vorgestellt hatten ... eingebettet in die Traditionen ihres Volks, und geborgen in ihrer Liebe zueinander? Oder war sein und ihr Leben genauso unerbittlich vorgezeichnet wie der lange, gebogene Weg, den er nun beschritt, dem er zwangsläufig folgen mußte, einen Schritt vor den anderen setzend, ohne eine Möglichkeit der Abweichung und der Umkehr?
Nachdem sie das Sims einmal umrundet hatten und wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt waren, stiegen sie neuerlich in die wartende Kabine; Funke als erster, mit einem Seufzer der Erleichterung. Tammis klammerte sich an den Handlauf, wie wenn er keinen Grund mehr unter den Füßen hätte und befürchtete, er könne weggedriftet werden. In seinen Augen stand ein Ausdruck, der mehr war als Staunen, und der Funke irgendwie vertraut vorkam.
»Geht es dir gut?« fragte Funke besorgt.
Tammis nickte halbherzig. »Hier drunten ist es viel schöner, als ich es mir vorgestellt hatte. Das Licht ...« Er deutete auf die Fensterscheibe.
Funke nickte und betrachtete die
Weitere Kostenlose Bücher