Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
stehen, bis ich wußte, daß du über dem Berg bist«, sagte sie leise. »Und was kann ich schon ohne meine rechte Hand ausrichten? Sie lächelte, aber nur flüchtig. Mit einem verstehenden Blick sah sie Jerusha an, als Frau und als Mutter, nicht als Königin. Sie konnte nachempfinden, was Jerusha jetzt durchmachte.
Jerusha preßte die Lippen aufeinander und schaute weg. Ihre Lippen waren trocken und rissig, deshalb bot Mond ihr ein Glas Wasser an und half ihr beim Trinken. »Wo ist Miroe?« fragte Jerusha.
»Er kümmerte sich um dich, als wir dich hierherbrachten, und hat dann eine lange Zeit an deinem Bett gesessen ...«, erwiderte Mond. »Er sagte, er käme bald zurück.«
Jerusha nickte matt. Sie starrte gegen die Zimmerdecke, die eine makellos glatte und saubere Fläche war. Sie wünschte sich, ihr Körper wäre genauso vollkommen, und nicht so anfällig für alle möglichen Gebrechen. Dann schaute sie Mond wieder an. »Es geht mir gut«, sagte sie. »Du kannst ruhig wieder heimgehen zu deiner Familie.
Mond stand auf, ohne Jerushas Hand loszulassen. Sie wirkte unschlüssig, doch nach einer Weile gab sie Jerushas Hand frei. »Ich suche Miroe und schicke ihn zu dir.«
»Danke«, erwiderte Jerusha.
Mond lächelte beinahe schüchtern und ging aus dem Zimmer.
Jerusha lag da und lauschte den Geräuschen, die von draußen in ihr Zimmer drangen. Sie wollte verhindern, daß der Schmerz über den Verlust die Leere ihr Bewußtsein füllte. In Gedanken stellte sie sich vor, wie ihre männlichen Kollegen von der Polizeitruppe der Hegemonie reagieren würden, wenn sie sie jetzt sehen könnten ... und sie rief sich ins Gedächtnis zurück, welche Lebenseinstellung sie selbst früher gehabt hatte. Wie hätte die alte Jerusha die Situation, in der sie sich nun befand, beurteilt? Weder von ihren Kollegen noch von der Frau, die sie einmal war, hätte sie Mitleid erwarten können.
Jahrelang hatte sie darum gekämpft, von ihren männlichen Kollegen als gleichberechtigter Mensch angesehen zu werden, und nicht als Frau. Und während dieses Prozesses hatte sie viele männliche. Verhaltensweisen übernommen. Als sie aus dem Polizeidienst ausschied, hatte sie geglaubt, ihre Menschlichkeit zurückzugewinnen. Sie war kein Mann ... Aber wenn sie eine Frau sein wollte, streikte ihr Körper.
Sie fing an zu weinen; sie haßte Tränen, und sie verachtete sich für ihre körperliche und nervliche Schwäche. Sie sehnte sich nach Miroe, jetzt brauchte sie ihn. Wieso war er nicht bei ihr? Er sollte den Verlust des Kindes mit ihr gemeinsam tragen, ihr Halt und Stütze sein – und den Kummer mit ihr teilen.
Jemand kam ins Zimmer. Mit einer Kraftanstrengung hob sie den Kopf. Es war Miroe, als hätte er ihr stummes Flehen gehört.
»Jerusha.« Er trat ans Bett heran, und seine vom Arbeiten rauhen, schwieligen Hände streichelten ihre fieberglühende Haut mit einer Sanftheit, die sie immer wieder überraschte. Er berührte ihre Hände, ihr Gesicht, und er wischte ihr die Tränen ab. Dann küßte er sie zärtlich auf die Stirn und auf den Mund.
»Halt mich fest!« murmelte sie und wünschte sich, sie brauchte ihn nicht darum zu bitten. »Halt mich fest!« Er setzte sich auf die Bettkante, hob ihren kraftlosen, schlaffen Körper an und drückte ihn an seine Brust. Lange saßen sie so da, während ihre Tränen sein Hemd benetzten. Sie konnte nicht sehen, ob er auch weinte. Seine Muskeln waren eisenhart und verspannt, als wehre er sich gegen den Kummer. Bei ihren früheren Fehlgeburten, es waren drei, hatte sie nie geweint, und auch er hatte keine Tränen vergossen.
»Warum passiert mir das immer wieder?« flüsterte sie. »Das ist ungerecht!«
»Es tut mir ja so leid.« Seine Stimme klang gepreßt. »Bei den Göttern, Jerusha, ich habe getan, was in meiner Macht stand.«
»Ich mache dir keine Vorwürfe.« Sie rückte ein Stück von ihm ab und sah ihm ins Gesicht. Er wich ihrem Blick aus.
»Das solltest du aber«, erwiderte er leise. »Ich kann dir nicht helfen ... Ich bin überfordert. Auf einer anderen Welt hättest du längst gesunde Kinder geboren.«
»Nein, das stimmt nicht«, widersprach sie ihm. »Auf einer anderen Welt hätte ich nicht einmal einen Ehemann, ich wäre nicht mit dir zusammen. Die Hegemonie ist schuld!«
Angewidert stieß sie die Worte hervor. Aber die Hegemonie war weit weg, unerreichbar, und plötzlich übertrug sich ihre Wut auf den Mann, der sie in den Armen hielt, den sie erst um Trost bitten mußte, und der
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