Tief im Herzen: Roman (German Edition)
hätte nie damit gerechnet, daß jemand für ihn eintreten würde.
»Mr. Quinn …«
»Niemand bezeichnet meinen Bruder als den Sohn einer Hure, Mrs. Moorefield. Und wenn Ihre Schulordnung keine Maßnahmen gegen wüste Beschimpfungen und Schikanen ergreift, dann sollten Sie das möglichst schnell ändern. Ich fordere Sie auf, die Situation noch einmal gründlich zu überprüfen. Und Sie sollten lieber noch einmal überdenken, wer hier vom Unterricht ausgeschlossen wird. Außerdem können Sie den Eltern des lieben Robert ausrichten, sie sollen ihm Manieren beibringen, wenn sie vermeiden wollen, daß ihr Sprößling mit einer blutigen Nase herumläuft.«
Sie ließ sich Zeit, bevor sie antwortete. Seit nahezu dreißig Jahren unterrichtete und betreute sie Schüler. Was sie in diesem Augenblick in Seths Gesicht sah, war Hoffnung,
zwar auch Staunen und Argwohn, aber dennoch Hoffnung. Und diese wollte sie nicht zerstören.
»Mr. Quinn, Sie können sich darauf verlassen, daß ich die Angelegenheit noch einmal überprüfen werde. Ich wußte nicht, daß Seth verletzt ist. Wenn Sie ihn eben zur Schulschwester bringen würden, während ich mit Robert spreche – und anderen …«
»Ich kümmere mich schon um ihn.«
»Wie Sie wünschen. Ich lasse die Strafe vorläufig ruhen, bis ich den Vorfall geklärt habe.«
»Tun Sie das, Mrs. Moorefield. Ich persönlich kenne den Hergang. Jetzt nehme ich Seth erst mal mit nach Hause. Er hat für heute genug.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
Der Junge hatte nicht elend ausgesehen, als er ihr Büro betreten hatte, dachte sie. Er hatte sich arrogant gegeben. Er hatte auch nicht elend ausgesehen, als sie ihn aufforderte, sich zu setzen, während sie bei ihm zu Hause anrief. Daraufhin hatte er ein feindseliges Gesicht gemacht. Doch jetzt sah er elend aus, endlich. Er hatte die staunenden Augen weit aufgerissen und hielt sich an der Stuhllehne fest. Der dünne, harte Schutzschild, den er rings um sich errichtet hatte, ein Schild, den weder sie noch einer seiner Lehrer auch nur hatte ankratzen können, schien brüchig geworden zu sein.
Jetzt, so entschied sie, würden sie etwas für ihn tun können.
»Wenn Sie Seth morgen früh zur Schule bringen und mich bitte hier aufsuchen wollen, werden wir gemeinsam eine Lösung finden.«
»Wir werden da sein. Gehen wir«, sagte er zu Seth, und sie verließen das Büro.
Als sie den Korridor hinunter zum Ausgang gingen, erzeugten ihre Schritte ein dumpfes Echo. Cam blickte den Jungen von der Seite her an und sah, daß Seth auf seine Schuhe starrte. »Ist mir immer noch unheimlich«, meinte er.
Seth öffnete die Tür. »Was?«
»Wie es sich anhört, wenn man den langen Gang zum Direktor antritt.«
Seth prustete los, ließ die Schultern hängen und ging weiter. Sein Magen fühlte sich an, als ob dort tausend Schmetterlinge miteinander kämpften.
Die amerikanische Flagge am Fahnenmast in der Nähe des Parkplatzes flatterte im Wind. Aus einem geöffneten Fenster hinter ihnen drang eine quälend falsch gespielte Melodie. Die Grundschule war nur durch einen schmalen Grasstreifen und einige kümmerliche Immergrünsträucher von der Mittelschule getrennt.
Auf der anderen Seite der Aschenbahn erhob sich das braune Ziegelgebäude, in dem die High School untergebracht war. Es wirkte jetzt kleiner, stellte Cam fest, beinahe malerisch, ganz und gar nicht wie das Gefängnis, für das er es einmal gehalten hatte.
Er erinnerte sich, wie er träge an der Motorhaube seines ersten Gebrauchtwagens gelehnt auf dem Parkplatz Mädchen beobachtet hatte. Wie er während den Pausen durch die lauten Flure gegangen war und Mädchen beobachtet hatte. Wie er in Stunden, die ihn gelangweilt hatten, Mädchen beobachtet hatte.
Der Umstand, daß er seine Zeit an der High School als eine Kette verschiedenster Mädchen erinnerte, versetzte ihn beinahe in sentimentale Stimmung.
Dann läutete schrill eine Glocke, und der Lärmpegel hinter den geöffneten Fenstern explodierte. Sofort wurden seine sentimentalen Regungen im Keim erstickt. Gott sei Dank war dieses Kapitel seines Lebens schon lange vorüber, dachte er. Aber für den Jungen war es noch nicht vorbei. Und da er nun schon einmal da war, konnte er ihm durch diese Zeit hindurchhelfen. Sie öffneten die Türen des Corvette, und Cam blieb stehen und wartete, bis ihre Blicke sich begegneten. »Also, was meinst du, hast du dem Arschloch die Nase gebrochen?«
Der Schimmer eines Lächelns umspielte Seths Lippen. »Kann
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