Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
gestoßen, der noch nicht kartiert war.
    Das Meer hatte seine Stimme erhoben und sich gewehrt.
    Statt entlang der eingeschlagenen Linie fortzufahren, verlangte er Messungen quer zum bisherigen Kurs der Barkassen. Sie mußten herausfinden, ob es ein langgestreckter Felsrücken war oder nur ein begrenzter steinerner Hügel. Sie maßen in Intervallen von drei Metern und riefen einander die Ergebnisse zu. Welander trug die Werte 19,16,15 ein, dann plötzlich 7 Meter, danach nochmals 7, dann 4, und einen weiteren Sprung bis auf 2 Meter. Die Tiefe pendelte auf einer Strecke von 100 Metern zwischen 2 und 3 Metern.
    Lars Tobiasson-Svartman erzielte dieselben Ergebnisse. Es handelte sich um eine nicht unbedeutende Erhebung auf dem Meeresboden. Sie waren auf eine Untiefe gestoßen, die aus irgendeinem Grund nie richtig kartiert worden war. Aus dem Stegreif konnte er sich nicht erinnern, ob sie überhaupt als Heringsgrund in alten Aufzeichnungen über die Fischerei beim Leuchtturm von Sandsänkan auftauchte.
    Der Schneefall hatte sich weiter verdichtet. Er war irgendwie enttäuscht. Das Meer hatte ihn hereingelegt.
    Er rief Welander zu, die Arbeit für den Tag abzubrechen. Die durchnäßten Matrosen wurden wieder munter. Einer gähnte laut, als er sein Ruder anpackte. Gelbgrüner Rotz rann ihm aus der Nase. Lars Tobiasson-Svartman stand heftig auf und schlug ihm mit dem Kartenfutteral ins Gesicht. Er schlug fest zu, und der Matrose blutete sofort aus der gesprungenen Oberlippe.
    Das Ganze ging so schnell, daß niemand reagieren konnte.
    Die Schwäche, dachte er. Jetzt habe ich mich erreichbar gemacht. Ich habe die Kontrolle verloren.
    Die Matrosen ruderten weiter. Er selbst saß da, den Blick auf Halsskär gerichtet. Niemand sagte etwas.
    Beim Abendessen - Roastbeef , Kartoffeln und Salzgurke -erzählte er Leutnant Jakobsson von dem unsichtbaren Felsrücken.
    »Was werden die Folgen sein?« fragte Leutnant Jakobsson.
    »Es wird mir gelingen, das Fahrwasser durch die inneren Schären zu ziehen, aber nicht in dem Umfang, wie ich es erhofft hatte.«
    »Es ist also kein Scheitern auf der ganzen Linie?«
    Er ging dazu über, von der anderen Sache zu sprechen, die vorgefallen war. »Ich habe heute einen Matrosen zurechtgewiesen. Es war notwendig. Er ruderte nicht so, wie er sollte. Ich habe ihn mit dem Kartenfutteral geschlagen.«
    Leutnant Jakobsson war natürlich bereits informiert. Er lächelte. »Die Mannschaft muß selbstverständlich bestraft werden, wenn sie sich den Befehlen widersetzt oder ihre Aufgaben vernachlässigt. Ich muß jedoch die Frage stellen, was es heißt, nicht >so zu rudern, wie man sollten«
    »Er war träge.«
    Leutnant Jakobsson nickte und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich hätte nicht gedacht, daß zum Abwracken weggebracht wurden. Aber ein Fahrwasser?«
    Lars Tobiasson-Svartman dachte, daß er etwas entgegnen sollte. Aber ihm fiel nichts ein.
    Er beendete die Mahlzeit und verließ die Messe. An Deck blieb er stehen und blickte hinüber nach Halsskär, das sich in der Dunkelheit verbarg. Er versuchte sich vorzustellen, wie Sara Fredrikas Mann aussah und ob es Kinder in der grauen Kate gab.
    Ein leichter Südwind war aufgekommen. Er fühlte, daß die Temperatur über Null gestiegen war.
    Es schneite nicht mehr.
    Er setzte sich in seiner Kajüte an den Tisch, zündete die Petroleumlampe an und versuchte, seiner Enttäuschung Herr zu werden. Er hatte einen Fehler begangen, er hatte einen Triumph vorweggenommen. Er war überzeugt gewesen, daß es ihm gelingen würde, einen Bogen auf der Seekarte zu einer Geraden zu machen, den Kriegsschiffen besseren Schutz zu gewähren und ihnen vor allem die Möglichkeit zu geben, sich mit größerer Geschwindigkeit dem Land zu nähern oder auf die See hinauszukommen. Obwohl er aus Erfahrung wußte, daß ein Fahrwasser wie eine unsichtbare Hindernisbahn war, hatte er sich verleiten lassen, mit allzu großer Sicherheit aufzutreten. Das Meer hatte ihn nicht betrogen. Er selbst hatte ihm nicht genügend Respekt erwiesen. Er hatte eine große Sünde begangen, er hatte sich verschätzt.
    Die Petroleumlampe begann zu qualmen. Während er die Flamme regulierte, tauchte ein Erinnerungsbild auf. Sein Vater hatte einen seiner schlimmsten Wutausbrüche bekommen, als er zu spät zu Tisch gekommen war, weil er sich in der Uhrzeit verschätzt hatte. Mit einem Brüllen hatte sein Vater ihm eine Ohrfeige verpaßt und ihn ohne Essen ins Bett geschickt.
    Zu spät kommen hieß, die Zeit der

Weitere Kostenlose Bücher