Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
von Roslagen, bei Öregrund.«
    »Dann seid ihr weit gelaufen.«
    Der Junge sagte nichts. Er atmete schniefend. Plötzlich fing er an zu lachen und warf den Kopf hin und her. Der Vater nahm ihn in einen festen Griff, hielt ihn fest wie ein Tier, das man eingefangen hat. Der Junge beruhigte sich und sank in sein Schweigen zurück.
    »Seine Mutter ist tot«, sagte der Mann. »Für uns gab es da oben keinen Grund zum Bleiben. In Kalmar hat er eine Tante. Vielleicht wird es da besser. Sie ist religiös und sollte wohl Kinder und Kranke bei sich aufnehmen.«
    »Wovon lebt ihr?«
    »Wir gehen zu den Höfen. Die Menschen sind arm, aber sie geben etwas ab. Besonders wenn sie den Sohn sehen. Es ist wohl vor allem, weil sie uns schnell wieder loswerden wollen.«
    Der Vater hob die zottige Mütze, nahm den Sohn an der Hand und wollte wieder losgehen. Er rief ihnen zu, daß sie stehenbleiben sollten. Aus seiner Innentasche nahm er ein paar Banknoten, erst von geringerem Wert, schließlich einen Hunderter. Er gab sie dem Vater, der das Geld verständnislos anstarrte.
    Auch er ging weiter. Erst nach 200 Metern drehte er sich um.
    Vater und Sohn standen regungslos da und schauten ihm nach.

    Am Nachmittag des folgenden Tages näherte er sich Halsskär.
    Das Eis war immer noch weich. Die Säcke, die er an dem Zuggeschirr schleppte, sogen Feuchtigkeit auf und wurden immer schwerer.
    Er vermied es, zu nahe an die seichten Gebiete zu kommen, zu dicht an Schären und Felseninseln. Dreimal blieb er stehen und maß die Dicke des Eises. Das Meer näherte sich, drängte von unten herauf.
    Er zitterte, als er die Schärfe am Feldstecher einstellte. Es stieg Rauch aus dem Kamin. Er hatte sich vorgestellt, daß er Erleichterung empfinden würde. Statt dessen wurde er unschlüssig.
    Ich kehre um, dachte er. Ich muß Schluß machen mit diesem Wahnsinn, ich kehre zurück.
    Dann ging er weiter auf die Schäre zu. Das Boot war immer noch hochgezogen und umgedreht. Der Schnee auf dem Pfad zum Haus hinauf war geschmolzen, er konnte keine Fußspuren erkennen.
    Er setzte sich auf einen der Senksteine und holte eine Flasche Branntwein aus den nassen Säcken. Er nahm zwei tiefe Schlucke und spürte, wie sich die Wärme in seinem Körper ausbreitete.
    Er nahm noch einen Schluck und ging hinauf zum Haus.
    Ich werde anklopfen, dachte er. Ich werde die Tür öffnen und eintreten. Wenn ich die Tür hinter mir zumache, werde ich sofort nach einem Ausgang zu suchen anfangen.
    Bevor er anklopfen konnte, wurde die Türe aufgemacht. Sara Fredrika riß sie auf. Sie hatte andere Kleider an, geflickt, verschlissen, aber sauber. Ihre Haare waren nicht mehr verfilzt, sie hatte sie hochgesteckt. Sie zitterte.
    Er hatte noch nie eine solche Freude gesehen.
    »Ich wußte, daß du kommen würdest«, sagte sie. »Ich habe gezweifelt, aber ich habe nicht aufgegeben.«
    »Ich habe doch gesagt, daß ich kommen werde. Es hat seine Zeit gebraucht. Aber ich bin übers Eis gegangen, und jetzt bin ich hier.«
    Sie gingen hinein. Sie hatte aufgeräumt. Vieles war weg, Lumpen, Flickenteppiche, aber das Fell des verrückten Fuchses war noch da. Er legte die Säcke ab.
    Sie packte ihn. Es war, als würde sie Haken in ihn schlagen. Sie begann, an seinen Sachen zu ziehen und zu zerren. Sie landeten auf dem Fußboden vor der Feuerstelle. Er verbrannte sich am Rücken, aber die Haken saßen so tief, daß er nicht entkommen konnte.
    Danach zogen sie sich schweigend an. Er betrachtete heimlich ihren Rücken.
    Als sie sich umdrehte, sah er, daß ihr Blick anders war. Er kannte diesen Blick, er hatte ihn schon einmal gesehen, aber in den Augen eines anderen Menschen.
    Er wußte es sofort. Sie hatte den gleichen Ausdruck in den Augen wie seine Frau, als sie ihm erzählt hatte, daß sie schwanger war.
    Sara Fredrika erzählte es ihm am folgenden Tag, wie etwas Selbstverständliches.
    Sie gingen am Strand entlang und sammelten Brennholz.
    »Ich bekomme ein Kind«, sagte sie.
    »Ich habe es geahnt«, sagte er.
    Sie betrachtete ihn abwartend. »Verschwindest du jetzt wieder?«
    »Warum sollte ich das tun?«
    »Ein Kapitän und ein Weibsbild vom Meer. Was hätte das für eine Zukunft? Wir stehen an einem Abgrund.«
    »Ich bin gekommen, um dich zu holen.«
    »Du sollst wissen, daß ich mich entschieden habe. Über das Kind bin ich froh, auch wenn du nicht zurückgekommen wärst.«
    »Ich bin hier.«
    Sie fuhr fort, ihn zu betrachten.
    Er hatte das Gefühl, als würde ein Seil um ihn herum

Weitere Kostenlose Bücher