Tiefe
sehen ist?«
»Ich weiß es«, sagte er. »Das gehört zu meinem Beruf. Ich kann das Meer lesen, sehen, was man nicht sieht.«
Er wendete das Boot und machte 19 Ruderschläge, änderte dann die Richtung etwas mehr nach Backbord, und dann weitere 22 Ruderschläge.
Sie hatten einen kleinen Draggen an Bord. Er wußte, daß die Bodentiefe zwischen 55 und 60 Meter betrug. Der Tam-pen des Ankers maß nur 30 Meter.
»Es ist hier«, sagte er. »Aber das Ankerseil ist zu kurz. Ich erreiche nicht den Boden.«
»Ich muß ihn heraufholen.«
»Ich weiß, wo es ist. Wir können hierher zurückkehren. Du hast eine Seilwinde unten in der Bucht, die mit dem Draggen verbunden werden kann. Sie mißt 40 Meter. Das reicht.«
Er wartete nicht auf Antwort, sondern ruderte zurück nach Halsskär. Sie saß schweigend im Heck, zusammengesunken wie nach einer viel zu großen Anstrengung.
In der Bucht holte er das Seil ins Boot. »Laß mich es tun«, sagte er. »Laß mich das Netz herausziehen. Du mußt nicht mitkommen.«
Sie antwortete nicht. Als er hinausruderte, stand sie regungslos da und sah ihm nach.
Er ließ den mehrarmigen Anker in die Tiefe sinken. Beim vierten Versuch spürte er einen Widerstand. Er stand im Boot auf und zog. Das Netz kehrte zurück, und darin befanden sich noch die Knochenreste und der Lederflicken. Es war ein Stück von einem Stiefel, das hängengeblieben war, ein rostiger Nagel steckte im Leder. Er zog das Netz an Bord. Es waren zappelnde Fische darin, eine unbegreifliche Lebenskraft mitten in all dem Tod. Er nahm die Gebeine, die Kaulbarsche und das Seegras heraus und warf das Netz wieder aus.
Er erinnerte sich an das Treibnetz, das er an einem frühen Morgen von der Blenda aus gesehen hatte. Die tote Tauchente, die geräuschlose Bewegung, Freiheit, die ständig auf der Flucht war. Jetzt hatte ein weiteres Netz die Freiheit wiedererlangt.
Er betrachtete die Gebeine. Ein Teil eines Unterarms, eine abgebrochene Rippe und die Reste des linken Fußes.
Der Fuß regte ihn auf. Es war etwas Schamloses an diesem wohlbehaltenen Skeletteil, dem einzigen, das in tiefstem Ernst daran erinnerte, daß ein Mensch in unbegreiflicher Angst und Einsamkeit ertrunken war.
Er ruderte zurück nach Halsskär. Einmal ließ er die Ruder ruhen und fühlte an seiner Stirn, ob er Fieber hatte.
Die Stirn war kühl.
Als er zurück zur Hütte kam, war sie leer. Er legte die Gebeine ab und begann, Sara Fredrika zu suchen.
Irgendwo mußte sie sein. Trotzdem hatte er plötzlich das Gefühl, allein auf der Schäre zu sein.
Er fand sie weit im Norden. Sie hatte sich in einer Felskluft zusammengekrümmt, sich ins Heidekraut gepreßt, lag mit offenen Augen da, ohne zu sehen. Er setzte sich neben sie.
Nichts ist so einfach, wie Kontrolle über leidende Menschen zu bekommen, dachte er. Menschen, denen jede Widerstandskraft fehlt.
Er erinnerte sich an seine Mutter, weinend, allein in einem der dunklen Zimmer, die in der Kindheit sein Zuhause waren.
Ein Krähenschwarm lärmte in der Ferne. Das Geräusch zog davon. Er wartete.
Es vergingen 32 Minuten. Dann stand sie auf und verließ rasch die Felskluft. Sie ging ins Haus. Er wollte gerade die Tür aufmachen, als sie wieder
Er blieb ganz still stehen. Sollte er sie allein lassen? Sie konnte nicht verschwinden, der Berg hatte keine unbekannten Geheimtüren, die sich öffnen würden.
Plötzlich sah er Rauch und nahm den Geruch von Teer wahr. Als er hinkam, hatte sie eine Teertonne angezündet und steckte Netze und Reusen ins Feuer.
»Du kannst dich verbrennen«, schrie er. »Du kannst brennenden Teer abbekommen!«
Er zerrte an ihr, doch sie weigerte sich, sich zu bewegen. Da schlug er sie, hart, ins Gesicht. Als sie sich aufrichtete, schlug er sie noch einmal. Da blieb sie sitzen. Er kippte die Tonne um und beförderte sie mit Fußtritten ins Wasser. Die Tonne zischte, der Rauch stank. Sie lag am Boden, schwarz von Teer und Blut, der Rock bis zum Bauch hochgezogen. Er dachte daran, daß dort ein Kind war, ein Kind, das existierte, ohne sichtbar zu sein.
Der Teer erlosch langsam. Eine dünne Schicht von rauchendem Fett breitete sich auf der Wasserfläche aus. Er half ihr auf.
»Ich muß weg«, sagte sie. »Ich kann hier nicht länger bleiben.«
»Wir werden die Insel bald verlassen«, sagt er. »Bald. Aber noch nicht sofort.«
»Warum müssen wir noch bleiben? Warum nicht
jetzt?«
»Mein Auftrag ist noch nicht beendet.«
Sie betrachtete ihre teerbefleckten Hände.
»Ich habe
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