Tiffany Duo 40
vorgestellt, dass er durch die Weltgeschichte reiste, ohne an
einen Menschen gebunden zu sein. Ein einsamer Reisender, wurzellos und immer da
zu Hause, wo er gerade war. »Ist sie älter oder jünger als Sie?«
Die Worte waren ihm entschlüpft, und nun verwünschte er sich für den Moment der
Unachtsamkeit. »Janet ist vier Jahre jünger als ich.«
»Mal sehen«, meinte Claire. »Das heißt, sie ist achtundzwanzig, richtig?«
»Genau«, stimmte Oliver zu, der gegen seinen Willen lächeln musste. »Sehr gut. Mal
sehen, ob ich auch so gut raten kann wie Sie. «
»Sie sind.« Er sah sie scharf an. ».im selben Alter wie meine Schwester, also
achtundzwanzig.«
»Nah dran. Ich bin neunundzwanzig.«
Er nickte. Mittlerweile hatten sie die direkte Umgebung von Jerusalem hinter sich
gelassen. Die Straße war kurvig geworden und stieg zwischen trockenen braunen
Hügeln ständig an.
»Wo lebt Janet?«
»Mit Ihrem Ehemann in New Orleans. Ted arbeitet für eine große Ölgesellschaft.« Er
drückte seine Zigarette aus und beschloss, Claire von diesem Thema abzubringen.
»Und Ihre
Familie?«
»Ich habe nur noch meine Großmutter. Sie lebte bis vor anderthalb Jahren in
Atlanta. Dann fingen die ständigen Einladungen zum Tee und Buchbesprechungen
an sie zu langweilen, und sie ist auf die St. Simonsinsel gezogen. Dort hat sie einen kleinen Geschenkladen eröffnet. Es läuft sehr gut. Sie ist einundsiebzig und sieht aus wie fünfundfünfzig. Und sie hat die Energie einer Zwanzigjährigen.«
»Sie sind wohl sehr stolz auf sie?«
»Ja. Sie hat mich großgezogen. Mein Vater ist gestorben, als ich sieben war, und
meine Mutter schaffte es anscheinend nicht allein. Sie hat wiedergeheiratet, als ich zwölf Jahre war, und ich bin bei meiner Großmutter geblieben. Vor drei Jahren ist
meine Mutter dann ebenfalls gestorben.«
»Sehen Sie Ihre Großmutter häufig?«
»Nicht so oft, wie ich es gern würde. Aber wir schreiben uns lange Briefe.«
Ihre Stimme klang gedämpft, und Oliver merkte, dass es keine gute Idee war, über
ihre Familien zu reden. »Schauen Sie mal nach links«, meinte er. »Vom
Scheitelpunkt der nächsten Steigung aus werden wir das Tote Meer sehen.«
Claire fand eher, dass es wie eine große Glasscheibe aussah, über der ein
Dunstschleier lag. Die kahle Landschaft schien noch näher an der Küste zu sein.
Claire schaute immer noch nach Osten, als Oliver sagte: »Das ist es. Qumram.«
Die Ausgrabungen thronten auf der Ebene, und im Hintergrund ragten die steilen
weißen Klippen auf. Claire und Oliver verließen den Wagen. Das heiße grelle
Sonnenlicht machte ihnen bald zu schaffen, während sie zu den Ruinen
hinaufkletterten, aber Claire wäre auch noch höher gestiegen, um zwischen den
zerfallenen Mauern stehen zu können. Nachdem sie den obersten Absatz einer
Treppe erreicht hatte, drehte sie sich um und legte Oliver die Hand auf den Arm.
»Das ist unglaublich«, sagte sie bewundernd.
Oliver, der die Ausgrabungen schon mehrmals vorher ge-
sehen hatte, war sich nur ihrer Hand auf seinem Unterarm bewußt. Wie gebannt
ließ er den Blick zu ihrem Mund gleiten, wandte ihn nur mühsam ab und schaute ihr
in die Augen.
Langsam trat er einen Schritt zurück. »Das ist der Brunnen«, sagte er. Seine Stimme
war gespannt, aber Claire schien es nicht zu bemerken. »Und dahinten liegen die
Töpferwerkstatt und der Brennofen. Sehen Sie die Öffnungen in den Klippen?«
Sie beschattete die Augen vor dem grellen Sonnenlicht. »Ja.«
»Sie führen zu den Höhlen, in denen man die Schriftproben gefunden hat.«
Von ihrem Standpunkt aus wirkten die Öffnungen wie kleine Schlitze hoch oben in
den glatten senkrecht abfallenden Klippen. Claire fragte sich, wie selbst eine
Bergziege dort hinauf hätte klettern können. »Kein Wunder, dass sie zweitausend
Jahre verborgen gewesen sind!«
»Sie haben nicht vorgehabt, einmal in die Höhlen hineinzusehen, oder?«
Olivers Stimme hinter ihr klang belustigt. Sie drehte sich um und lächelte ihn an.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich es gern auf einen anderen Tag
verschieben.«
Er schaute auf sie mit einem unergründlichen Blick seiner tiefblauen Augen herab.
Einen Moment lang war ihr Kopf leer von irgendwelchen Gedanken, und auch die
Stimmen der anderen Touristen in der Siedlung waren verstummt. Sie spürte, wie
sich etwas in ihrer Brust zusammenzog. Im gleichen Moment wusste sie, dass sie
beide der Faszination, die sie füreinander
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