Tiffany
Auffahrt hinauf zu einer Villa mit Reetdach, umgeben von einigen Hektar Rasenfläche und Ziersträuchern sowie einem Wäldchen hoher Buchen dahinter. Unser Dutchbat-Soldat hatte wohlhabende Eltern.
Niemand öffnete die Tür. Wir gingen um das Haus herum und sahen einen etwa sechzehn Jahre alten blonden Jungen, der eine Schubkarre voller Unkraut über das Gras in Richtung Waldrand schob.
Wir überquerten den Rasen und riefen Hallo, aber er schaute sich erst um, als wir schon fast bei ihm waren. Er ließ vor Schreck die Schubkarre los und griff hastig danach, bevor sie umfallen konnte. Dann nahm er die Walkman-Kopfhörer von den Ohren. Er machte keinen allzu hellen Eindruck.
»Hallo«, sagte Nel. »Ist dein Bruder zu Hause?«
Seine Kinnlade fiel noch weiter herunter, als sie von Natur aus schon hing. »Mein Bruder?«
»Jan van Nunen, der wohnt doch hier, oder?«
Er fing erleichtert an zu grinsen. »Ich arbeite hier nur im Garten, um mein Taschengeld aufzubessern.«
»Musst du nicht zur Schule?«, fragte Nel freundlich, als hätten wir alle Zeit der Welt.
»Ich wohne im Jozefstift«, antwortete er. »Wir dürfen aber bei Leuten arbeiten, wenn wir …«
»Ist denn niemand zu Hause?«, unterbrach ich ihn.
Sein Blick wanderte ab. »Die sind alle zur Beerdigung.«
Wir schwiegen und schauten den Jungen an, der mit unbefangenem Grinsen und halb offenem Mund auf Nels Busen starrte und an seinem Walkman herumfummelte.
»Wo findet die Beerdigung denn statt?«, fragte ich schließlich.
»In Wien.«
Nel schaute ihn ungläubig an. »In Österreich?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht weit von hier, aber sie bleiben den ganzen Tag weg. Heute gibt’s keinen Tee für Kees. So heiße ich.«
Nel gab sich große Mühe, freundlich zu lächeln, und dann überließen wir Kees seiner teelosen Arbeit. Im Auto studierte Nel eine Weile lang die Karte.
»Er meint Wienum.«
»So habe ich ihn auch verstanden. Wienum, das kennt doch jeder.«
Sie schnaufte. »Rechts ab, auf die Hauptstraße, und dann in Richtung Apeldoorn Nord.« Sie schwieg einen Moment lang und sagte dann: »Mist.«
Dazu war wenig zu sagen, außer vielleicht, dass wir mit einer Beerdigung hätten rechnen müssen. »Ich dachte, er würde in Hoenderloo wohnen«, bemerkte ich.
»Ich weiß im Moment gar nichts mehr. Auch nicht über Wien. In den Kreisverkehr da vorne rein und auf zwölf Uhr wieder raus. Wir sind gleich da.«
Nel fragte einen Passanten nach dem Weg, und wir fanden den Friedhof an einer grünen Waldallee zwischen Wienum und dem ebenso österreichisch klingenden Wiesel. Auf dem Parkplatz stand lediglich ein an einen Baum gelehntes Fahrrad. Hinter dem schmiedeeisernen Tor wurde die Friedhofsruhe nur von dem Rauschen des Windes in den Wipfeln der Zypressen und Pappeln gestört. Ich bekam einen Regentropfen ab und blickte hoch zu den dunklen Wolken, die rasch über das blasser werdende Himmelblau zogen.
Ein Mann in Overall und Gummistiefeln trat durch das Tor hinaus. Er runzelte seine dicken Augenbrauen. »Wollen Sie zu einer Beerdigung?«
»Ja, wir suchen die Familie van Nunen.«
»Das Begräbnis war schon um halb eins. Sie sind schon alle weg, in der Triangel, da müssen Sie zurück auf den Oude Zwolseweg fahren und dann ein Stück in Richtung Apeldoorn. Guten Appetit.« Er grüßte, indem er kurz mit dem Finger an Kopf tippte, und marschierte zu seinem Fahrrad.
Wir schauten uns an. Nel sagte: »Das ist ein Lokal, wir sind daran vorbeigefahren. Möchtest du dir das Grab ansehen?«
Ich nickte. »Soll ich einen Regenschirm mitnehmen?«
Nel lächelte mich an. »Ich bin ein gesundes, holländisches Mädel. Ein bisschen Regen ist gut für die Haare.« Sie klang fast schon wieder normal. Vielleicht lag es am Friedhof mit seiner besonderen Atmosphäre, an den Grabsteinen, die die Lebenden daran erinnern, dass es immer noch etwas Endgültigeres gibt als eine ausgebrannte Dachwohnung.
Sie schob ihre Hand in meine, als wir die Wege entlangwanderten. Jacob Hamel. Marinus van Beek. Unsere geliebte Martha. Es war ein Ort, an dem man nicht sein wollte, den man aber auch nur ungern wieder verließ.
Nels Nägel bohrten sich in meine Handfläche, und sie wies mit einem Nicken hinüber zu einem frischen Grab am Ende des Weges.
Die undeutlichen Umrisse eines Zeltes in Grün- und Brauntönen schimmerte durch die niedrigen Zweige einer gegenüber stehenden Birke. Als wir näher kamen, erkannte ich, dass es kein Zelt war, sondern ein Armee-Tarncape, das
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