Tiffany
eine alte Frau um sich geschlagen hatte, die am Stamm der Birke hockte. Ein knochiges Haupt, bedeckt mit glattem grauem Haar, ragte aus dem Umhang hervor, den sie vorne mit dünnen, unberingten Fingern zusammenhielt.
»Guten Tag, Mevrouw«, grüßte ich höflich. »Gehören Sie zur Familie von Jan van Nunen?«
Sie schüttelte den Kopf und zog den Umhang fester um sich, wobei sie den Kopf zur Seite neigte, als lausche sie einem Geräusch. »Es wird Zeit«, murmelte sie.
Ein plötzlicher Windstoß fuhr wild rauschend durch die Spitzen der Zypressen und Tannen hinter uns, und wir wandten uns erschrocken zu dem Grab um. Vielleicht würde später noch ein Stein aufgestellt werden, aber jetzt lagen nur zwei Blumensträuße und ein Kranz darauf, die wahrscheinlich die Totengräber auf den Erdhügel gelegt hatten, nachdem das Grab zugeschaufelt worden war. Ein kleinerer, selbst gemachter Kranz aus ineinander geflochtenen, getrockneten Kräutern lag am Fuß des Hügels.
Das Rauschen des Minitornados wanderte durch die Baumwipfel weiter über den Friedhof hinweg, und es wurde wieder still. Als ich mich umsah, war die alte Frau verschwunden.
Es schien so ein Tag zu sein, an dem man überall zu spät kam, denn es stand nur ein einziges Auto auf dem Parkplatz vor der Gaststätte Le Triangle. Drinnen waren Ober damit beschäftigt, die Häppchenreste, Kaffeetassen und Gläser wegzuräumen und Stühle, die offenbar in einem Kreis rund um einen beinahe erloschenen Kamin gestanden hatten, wieder an ihre Plätze rund um kleine Tische zu arrangieren. Nur noch eine Dame saß am Kamin, mit steif aufgerichtetem Rücken, die Hände im Schoß gefaltet, in einem schwarzen Kleid und einem Hut mit Schleier, der ihre Augen verbarg. Sie schien das Treiben um sich herum nicht wahrzunehmen.
Ein hoch gewachsener älterer Herr stand mit seinem Portmonee in der Hand an der Theke. Ich fragte in gedämpftem Ton, ob er der Vater von Jan van Nunen sei, und er hob seine freie Hand. »Einen Augenblick bitte.« Er konzentrierte sich auf seine Kreditkarte, die der Mann hinter der Theke durch das Gerät zog, bemerkte aber trotzdem, dass Nel hinter seinem Rücken in Richtung Kamin unterwegs war. »Junge Frau!« Seine Stimme war leise, aber glasklar und deutlich, als sei er an geflüstertes Kommandieren gewöhnt. Nel blieb wie angewurzelt stehen. »Lassen Sie bitte meine Frau in Ruhe.«
Ich nickte Nel zu, und sie setzte sich auf einen Hocker an der Bar und bestellte einen Kaffee.
Der Mann unterschrieb seinen Beleg und steckte sein Portemonnaie ein.
»Könnte ich mich vielleicht kurz mit Ihnen unterhalten?«, fragte ich ihn.
Er blickte hinüber zu der trauernden Dame, die nicht zu bemerken schien, dass die Stühle um sie herum verschwanden. »Sind Sie von der Polizei?«
»Max Winter. Mein herzliches Beileid.« Ich überreichte ihm meinen Meulendijk-Ausweis. »Mir ist klar, dass dies ein ungünstiger Augenblick ist.«
»Sie sind Privatdetektiv?« Er runzelte die Stirn und gab mir meinen Ausweis zurück. »Worum geht es?«
Ich warf einen Blick auf den Wirt. Van Nunen winkte mich mit sich an einen kleinen Tisch am Fenster. »Bitte fassen Sie sich kurz.«
»Ihr Sohn war als Soldat im ehemaligen Jugoslawien?«
Van Nunen schaute hinaus zu den Regentropfen, die an das Fenster klatschten und in eigenwilligen Rinnsalen an der Glasscheibe hinunterliefen. »Ja, im Winter 1992. Der Einsatz hat bleibende Schäden bei ihm hinterlassen. Ich selbst bin in Korea gewesen, aber das war damals, glaube ich, doch noch etwas anderes. Jan konnte nichts dafür. Es hängt eben immer davon ab, in welche Situation man gerät. Er war ein guter Junge. Ich konnte ihm nicht helfen.«
»Woran ist er gestorben?«
Van Nunen legte eine Hand um sein Kinn und presste Daumen und Mittelfinger in seine Kiefergelenke. »Er ist verbrannt, in einem alten Wohnwagen, im Wald. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte in diesem verdammten Bosnien eine Kugel abgekriegt.« Er schaute mir ins Gesicht, und ich sah, dass seine Augen verhangen waren. »Wissen Sie … in Korea, das war ein richtiger Krieg, man wusste, was man tat, man hatte eine Waffe. Jan hatte zwar auch ein Gewehr, aber ohne Munition, nur so zum Schein. Er konnte nichts anderes tun, als zuzusehen und durchzudrehen, weil er nicht einschreiten konnte, wenn Frauen und Kinder vor seinen Augen abgeschlachtet wurden. Nicht einmal darüber reden konnte er. Mit wem soll man auch über so etwas reden? Krank durch den Bund, so lautet
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