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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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klar, dass sie die letzten drei Tage fast erstickt wäre.
    Vielleicht wird es tatsächlich einfacher, dachte sie, kehrte dann jedoch solchen Gedanken den Rücken. Hari war vor dem Baum stehen geblieben.
    »Ach, Delilah!«, murmelte er und schaute den drei Meter hohen Stamm hinauf, betrachtete die fantastisch naturgetreuen Zweige, die sich weit ausstreckten, als wollten sie die ganze Welt umfassen - oder zumindest einen großen Teil der
    Galerie. Vögel, Schlangen und andere kleine Tiere nisteten in den gewaltigen Zweigen, versteckt hinter geäderten Weinblättern, von denen viele aus Kupfer und Silber gehämmert waren. Aus dem Blätterdach starrten menschliche Augen herab, die Andeutung eines Mundes, einer Hand.
    Kein Blatt oder Zweig war wie der andere, wie Schneeflocken. Dela hatte sehr darauf geachtet, jedem Teil Einzigartigkeit zu verleihen, die lebensechte Essenz von etwas Ungezähmtem. Die Gesichter der Kreaturen, die durch die Vegetation spähten, trugen ähnliche Mienen von Neugier und Fröhlichkeit und schienen sich je nach Lichteinfall zu verändern. Einige fanden diesen Effekt unheimlich.
    »Es hat mich ein Jahr gekostet, ihn zu vollenden.« Dela strich liebevoll mit den Fingern über den Stamm. Der Stahl fühlte sich rau und hart an, seine Rinde war geborsten, wie bei einem echten Baum. Um ihre Füße wanden sich die breiten, dicken Wurzeln, zwischen denen sich ein Fuchs versteckte und... eine kleine Fee mit Flügeln. »Er ist nicht verkäuflich, aber ich mochte ihn auch nicht einfach wegsperren. Einige meiner Besucher sitzen einfach nur stundenlang davor und betrachten ihn.«
    »Selbst wenn man ihn ein Jahr ansähe, wäre das nicht genug«, sagte Hari und beugte sich vor. Mit einem Blick holte er Delas Erlaubnis ein und strich dann mit den Fingern über ein glänzendes Blatt, das sich an seinem zierlichen Stängel bog.
    »Die Einzelheiten sind unglaublich. So zierlich. Das erinnert mich an mein Zuhause.«
    Sie errötete. »Ohne meine telekinetischen Fähigkeiten wäre es unmöglich gewesen. Nimm zum Beispiel die Blätter. Einige Künstler modellieren eine echte Pflanze nach, vor allem bei Massenware... wie Schmuck. Aber die Details sind dann nur oberflächlich dargestellt. Ein richtiges Blatt ist in seiner Perfektion eben nicht perfekt. Es hat Charakter. Ich habe mir all diese kleinen Klippen und Adern vorgestellt, die raue Oberfläche, und sie dann einfach in das Metall eingedrückt. ABANA, die Vereinigung der Hufschmiede, hat jahrelang versucht, mich dazu zu bringen, meine >geheime Technik< zu veröffentlichen. Sie glauben immer noch, dass ich Modelle benutze.«
    »Das ist Magie«, erklärte Hari begeistert. »Du darfst deine Kunst nicht aufgeben, Delilah. Du musst weiter schaffen.«
    »Das werde ich auch«, versprach sie plötzlich. Und zu ihrer Überraschung meinte sie es tatsächlich ernst.
    Sie sprachen noch etwas über ihre Arbeit, dann lief Dela nach oben und sagte den Jungs, dass Hari und sie spazieren gehen wollten.
    »Du solltest noch zusätzlichen Schutz mitnehmen«, sagte Artur. Dean kicherte nur.
    »Schon gut«, beruhigte ihn Dela und warf Dean einen vernichtenden Blick zu. »Hari ist Schutz genug, und wir werden nicht weit gehen.«
    Artur gab nur widerwillig nach, aber Dela ließ ihm nicht die Zeit, weiter darauf zu bestehen. Sie rannte die Treppe hinunter, packte Haris Hand und führte ihn in den Sonnenschein und den warmen Wind hinaus.
    Sie schlenderten die Main Street hinauf, betrachteten Schaufenster und mischten sich unter die letzten Touristen dieses Sommers. Dela fühlte sich merkwürdig, äußerst merkwürdig, aber gut. Sie ging selten nur zum Spaß spazieren. Da sie meist allein war, hatte sie immer ein Ziel, einen Ort, oder sie wollte sich mit jemandem treffen.
    Aber jetzt war der Einzige, den sie sehen wollte, Hari. Nur er war wichtig, weder Zeit noch Ziel, nicht einmal ihre Trauer. Sie betrachtete die Welt durch seine Augen und fand sie exotisch und wunderschön. Sie redeten unaufhörlich, erneuerten ihr Band durch Worte und machten schließlich eine kleine Pause in einem Terrassencafe, wo sie Tee und warmen Blaubeerkuchen bestellten.
    Hari genoss jeden Bissen und behandelte jeden Krümel wie einen Luxusgegenstand. Aber trotz seiner offenbaren Verzückung, seiner entspannten Schultern und dem Lächeln wusste Dela, dass er wachsam blieb. Sein Blick zuckte immer wieder zur Straße, musterte die Leute um sie herum. Seine Instinkte waren auf der Jagd.
    Aber das störte sie nicht.

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