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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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Fingern an ihrem Bewusstsein. Erinnerungen an den Morgen spülten über sie hinweg, und sie sah einen Schatten unter die dunkle Gesichtshaut des Fremden kriechen.
    Ihr Magen brannte, als Dela die Zähne zusammenbiss. Ja, dachte sie, vielleicht ist er doch der Magier.
    Ein dumpfes Grollen entrang sich Haris Brust, das mehr dem eines Tieres als dem eines Menschen glich. Delas nächster Gedanke war: Nur weg hier!
    Sie rühmte sich damit, ein Mädchen zu sein, das nie vor einem Kampf davonlief. Wie Superchick Deluxe aus dem Comicheft - sie sah vielleicht aus, als wäre es ein Kinderspiel, mit ihr fertig zu werden, aber wenn man ihr querkam, dann zerriss sie einen in der Luft, und zwar im wortwörtlichen Sinn.
    Trotzdem gab es selbst im Leben von Superchick Momente, in denen es EINE GUTE IDEE WAR WEGZULAUFEN. So wie jetzt zum Beispiel. Auch wenn man kein Genie war, begriff man, dass Hari diesen Mann mit bloßen Händen umbringen wollte, und das auch wirklich täte, falls er die Gelegenheit dazu bekam. Wenn das wirklich der Magier war - und Dela fing an,
    es zu glauben, obwohl das schlechterdings unmöglich schien -, dann war sie eigentlich nicht sonderlich scharf darauf, ihn davon abzuhalten.
    Andererseits war es eine alles in allem nicht gerade überragende Idee, mitten in einer überfüllten Einkaufspassage einen Mord zu begehen. Schon gar nicht in China.
    Dela klammerte sich an Haris Arm und hielt ihn mit aller Kraft fest. Sie hatte das Gefühl, einen Vulkan zu umarmen, einen heißen und ganz sicher gewalttätigen Vulkan. Hari zitterte, und sein Gesicht wirkte so wutverzerrt, dass alle, die ihn zufällig ansahen, erbleichten und instinktiv die entgegengesetzte Richtung einschlugen.
    »Hari!«, flüsterte sie drängend und schüttelte seinen Arm. Dabei warf sie einen Blick über die Schulter. Der Magier grinste wie ein Playboy, voller Sex und hässlichem Charme, und schlenderte mit einer sorglosen, überheblichen Anmut in ihre Richtung, dass es sowohl einer Einladung als auch einer Drohung gleichkam.
    Hari erschauerte und befreite sich mit Leichtigkeit aus Delas Griff. Sie stolperte, behielt jedoch ihr Gleichgewicht, baute sich halsstarrig vor ihm auf und stemmte beide Hände gegen seine Brust. Ihre Haut prickelte vor Furcht, vor echter Furcht, nicht um sich selbst, sondern aus Angst um Hari.
    »Nicht, das tust du nicht!«, keuchte sie. »Hari! Du musst mir zuhören. Hari!« Er schien sie aber gar nicht wahrzunehmen, sondern war vollkommen auf den Mann konzentriert, der sie beobachtete. Seine Augenfarbe veränderte sich, von golden zu einem blutunterlaufenen Kupfer, das förmlich glühte.
    Du könntest es ihm befehlen!
    Der Gedanke schoss ihr ungebeten durch den Kopf, und die Verzweiflung trübte für einen Augenblick Delas Urteilsvermögen. Doch dann schlug sie sich diese Idee angewidert aus dem Kopf. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Hari brauchte einen guten Schock. Szenen aus Filmen gingen ihr durch den Kopf, absurd und peinlich. Ohrfeigen, Schütteln, Treten... oh, halt, es gab da eine Möglichkeit, die sie ausprobieren konnte.
    Dela sprang an Hari hoch, schlang Arme und Beine um seinen kräftigen Körper. Es kam ihr fast so vor, als kletterte sie an einem Baum empor, einem soliden, regungslosen Baum, nur dass sie noch nie eine Eiche hochgeklettert war, die Lippen hatte.
    Es war ein unbeholfener Kuss, ein verzweifelter, hastiger, aber es gelang ihr, ein bisschen Leidenschaft zusammenzukratzen. Und offenbar war es genug, um Hari aus seiner bewusstlosen Wut zu reißen. Einen Moment lang fühlte sie, wie er den Kuss erwiderte, wie sich seine Lippen so heiß wie frisch geschmiedeter Stahl gegen ihren Mund pressten. Dela genoss seinen Duft und seine Hitze, während Tränen in ihren Augen brannten.
    Dann stolperte er und bog den Kopf zurück. Nicht weit, nur einen Atemhauch, und in seinen Augen erkannte sie eine ganze Geschichte aus Schmerz und unmenschlicher Entschlossenheit. Wut. Sehnsucht. Dela fühlte den Widerhall von Haris Seele in ihrem Herzen, als das Band zwischen ihnen, das verstummt war, unerwartet summte, voller Spannung und rein. Sie atmete die Erinnerung an sein goldenes Licht tief ein.
    »Ich muss diesen Mann umbringen«, flüsterte Hari flehentlich.
    »Das weiß ich«, erwiderte Dela und hasste sich dafür. »Aber wenn du ihn jetzt tötest, vor so vielen Zeugen, dann wirfst du doch nur dein eigenes Leben weg.«
    Er presste die Lippen so fest zusammen, dass sie zu einem weißen Strich wurden.

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