Tiger Eye
»Delilah«, sagte er dann, »bitte. Ich habe kein Leben. Nur das hier. Lass mich los. Ich weiß nicht, wie das möglich ist, aber der Magier ist hier, jetzt. Ich bekomme vielleicht keine andere Chance.«
Dela schüttelte halsstarrig den Kopf. Sie würde das nicht zulassen, nicht jetzt. Ganz gleich, wie sehr es ihn schmerzte.
»Hari, nein. Er muss auf dem Dreckmarkt auf dich gewartet haben. Denk darüber nach. Er wollte die Schatulle. Er wollte dich. Das ist nicht vorbei. Es ist erst der Anfang.«
Dela wusste, dass sie recht hatte. Es war noch nicht vorbei. Nicht für Hari - und auch nicht für sie.
Ein merkwürdiger Ausdruck flog über Haris Gesicht, wie ein Krampf, ein Zittern seiner Lippen. Für einen Moment glaubte sie, er würde sich weigern und sie einfach zu Boden schleudern. Doch dann nickte er, langsam und bedächtig.
Erschüttert drückte Dela ihre Stirn gegen seine Wange und küsste ihn auf den Mundwinkel. Sie konnte nicht einmal ahnen, was ihn das kostete.
»Danke«, stieß sie demütig hervor. »Ich danke dir für dein Vertrauen.«
Plötzlich hörte sie ein Klatschen und blickte über ihre Schulter. Der Magier lächelte und applaudierte wie ein besonders heuchlerischer Aufziehaffe.
»Eine wundervolle Darbietung. Ziemlich anrührend, besonders wenn man die Zeit bedenkt, die ihr euch kennt. Und da habe ich doch tatsächlich geglaubt, Sie würden keine Männer mögen.«
»Sie sind kein Mann«, erwiderte sie und war froh, wie kräftig und fest ihre Stimme klang. Ihr Körper dagegen fühlte sich wie Pudding an. Hari half ihr, sich von ihm zu befreien, und tat das mit einer Zärtlichkeit, die in merkwürdigem Widerspruch zu der kochenden Wut stand, die er mit jeder Pore ausstrahlte. Seine Selbstbeherrschung stand auf Messers Schneide.
Der Magier verzog spöttisch das Gesicht. »Haris Schwester hat da aber etwas anderes gesagt.«
Dela hätte fast ihre eigene Warnung vergessen, als Ekel sie durchströmte und sie das unbändige Verlangen spürte, das Hirn dieses Magiers zu Brei zu schlagen. Stattdessen jedoch umklammerte sie Haris Hand und beobachtete den heftig pochenden Puls am Hals des Gestaltwandlers. Wenn Hari jetzt gewalttätig wurde, gab es keine Möglichkeit für sie, sich zu verstecken, nicht mit so vielen Zeugen, und mit seinem auffälligen Gesicht und seiner unverwechselbaren Statur. Die amerikanische Regierung würde ihnen ebenfalls nicht helfen... Hari existierte doch noch nicht einmal. Und das Rechtssystem der Chinesen würde ihn niemals freilassen.
Hari erwiderte ihren Blick, und sie ließ zu, dass er ihre Wut und Trauer wahrnahm, einen mitfühlenden Zwilling seines eigenen offenkundigen Leidens. Seine aufgewühlten Gefühle zeigten sich deutlich in seinen Augen, doch dann waren sie verschwunden, hinter einem Vorhang aus Entschlossenheit. Er sah den Magier an.
»Ich dachte, du wärst tot«, sagte er, nachdem er seinen verkrampften Kiefer gelöst hatte. Dela hörte fast, wie der Knochen knackte. Seine Stimme war schrecklich, tief und glühend. »Staub in der Ewigkeit. Dieser Gedanke war eine meiner wenigen Freuden... Doch selbst die verwehrst du mir. Wie viele hast du geopfert, um überleben zu können?«
Hari hätte den Mann auch nach der Uhrzeit fragen können, so ausdruckslos war seine Reaktion. Der Magier neigte den Kopf. »Würdest du mir glauben, wenn ich sagte: gar keinen?«
»Nein.«
Der Magier lächelte. »Ich bin nicht hier, um gegen dich zu kämpfen, Hari. Jedenfalls noch nicht.«
Wieder glitt etwas gegen Delas mentalen Schild, etwas Dickes, Öliges, Hartnäckiges.
»Lassen Sie das!«, fuhr sie ihn an, ohne darauf zu achten, dass sie sich damit verriet. Hari vermutete es bereits, und es war klar, dass der Magier es wusste und sie auf die Probe stellte. Sie hasste das Gefühl, wenn sein Bewusstsein wie ein dicker Kuhfuß gegen die Oberfläche ihres eigenen drängte. Sie kam sich schmutzig vor.
Der Magier lachte leise. »Sie sind eine sehr interessante junge Frau. Eine Überraschung, und ich erlebe selten Überraschungen. Wusstest du, Hari, dass deine neue Herrin selbst eine Drude ist?«
Dela kannte diesen Begriff nicht, doch sie konnte seine Bedeutung erraten. Hari schien das nicht zu kümmern. »Lass sie in Ruhe, Magier. Denk nicht einmal daran, ihr wehzutun!«
»Oder was?« Seine Zähne waren zu weiß, zu scharf. Sie schienen zu klicken, wenn er sprach.
»Oder ich werde dich töten.« Bei diesem leisen Versprechen überlief es Dela kalt.
Der Magier lachte und
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