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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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einfach nicht fließen. Sie starrte ihre Reflexion im Badezimmerspiegel an und hasste, was sie da sah.
    Ich habe dieses Messer selbst gemacht. Ich habe es geschaffen, und es hat ein Kind getötet.
    Ihr Verlangen, Waffen anzufertigen, Klingen, und ihr Wissen um deren finsteren Zweck waren am Ende doch aufeinandergeprallt und hatten ein furchtbares, unverständliches Ergebnis gezeitigt.
    Nur, warum überraschte sie das? Jedes Mal, wenn sie eine Waffe schmiedete, bettelte sie förmlich nach Blut. Nicht im wörtlichen Sinne, aber wofür sonst wurden Klingen geschmiedet, wenn nicht, um zu durchtrennen, zu entleiben, Schmerz und Tod zu bewirken? Wofür sonst? Sie waren doch keine reine Dekoration! Nicht nur Kunst. Selbst Dela war nicht so naiv anzunehmen, dass ein Messer immer sicher war. So viel wenigstens hatte sie sich eingestanden.
    Aber ein Kind?
    Dela dachte an Wissenschaftler, die in ihren Laboren an noch wirksameren Bomben oder High-Tech-Waffen arbeiteten, sich auf die Wissenschaft konzentrierten, den Preis an Menschenleben vergaßen und die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Forschungen verdrängten. Dela hatte immer nur an Stahl gedacht, daran, ihm eine nützliche Gestalt zu geben. Sie bezog zwar den Tod in ihre Überlegungen mit ein, doch war er nur ein ferner Schatten. Unwirklich.
    Und dennoch, trotz ihres Ekels, des Entsetzens, das sie empfand, spürte sie das Verlangen nach Stahl in ihrer Brust, das finstere Bedürfnis, andere Dinge zu schmieden und zu erzeugen als einfach nur »ungefährliche« Kunst. Keine weichen Rundungen, sondern scharfe Kanten - Schärfe überhaupt.
    Bin ich ein Monster?, fragte sie sich. Und wenn nicht, was bin ich dann?
    Jemand klopfte leise an die Tür des Badezimmers.
    »Geh weg!«, befahl Dela. Die Tür schwang trotzdem auf, und Hari steckte den Kopf herein. Ihre Blicke trafen sich, dann war er plötzlich bei ihr, zog sie von dem Waschbecken weg in seine Arme. Er hielt sie fest, streichelte ihr Haar, und plötzlich versteckten sich ihre Tränen nicht mehr; sie strömten über ihre Wangen auf Haris Hemd. Dela schluchzte; es war ein heftiges, würgendes, hässliches Schluchzen.
    Hari sagte nichts. Er stand einfach bei ihr, warm und tröstend, und sie wusste instinktiv: Hari würde sie immer verstehen, ganz gleich, wie schlimm die Dinge auch stehen mochten. Er würde sie allein darum verstehen, weil er selbst Schlimmeres überlebt hatte, als sie sich auch nur annähernd vorstellen konnte. Und er würde sie verstehen, weil er ihr Freund war.
    Er würde sie verstehen, weil er... weil er sie liebte?
    Dela wusste, dass er sie begehrte, dass es ihn nach ihr gelüstete. Aber Lust war nicht dasselbe wie Liebe, und sie hatte weder ihr Herz noch ihren Körper je freigebig verschenkt. Dennoch wusste sie, dass das, was Hari empfand, etwas Echtes war. Trotz ihrer Verzweiflung konnte sie ihre Verbindung fühlen, die wie ein elektrischer Draht in ihrem Herzen brannte, neu und Angst einflößend, aber wundervoll. Es war etwas viel Tieferes als bloße Freundschaft.
    Liebe ist ein Sprung des Vertrauens. Du musst springen und daran glauben, dass Hari dich auffängt. Wenn er es nicht tut, so ist das eben der Lauf der Dinge. Du wirst nicht das einzige Mädchen sein, das an einem gebrochenen Herzen stirbt.
    Nur dass die Vorstellung, Hari zu verlieren, vielleicht noch schlimmer war als der Tod.
    »Delilah«, flüsterte er und zog sie dichter an sich heran. »Delilah. Das war nicht deine Schuld. Du hast die Waffe hergestellt, das schon, aber doch nicht mit der Absicht, dieses Kind damit zu töten. Und sie lag auch nicht in deiner Hand, als die Tat begangen wurde. Du musst dir selbst verzeihen.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, murmelte sie, löste sich ein wenig aus seiner Umarmung, damit sie sich die Augen und die Nase reiben konnte. Hari hatte die Arme sacht um ihren Oberkörper geschlungen, strich mit den Fingern über ihr Rückgrat und fuhr die Mulde über ihrer Taille nach. Dela sah zu ihm hoch, bis in die Augen, und suchte nach einem Ort, an dem sie sich fallen lassen konnte.
    Und fand ihn.
    *
    Das Licht in ihrem Haus war ihr noch nie so hell vorgekommen, fast schmerzhaft, und Dela hätte ihre gereizten Augen am liebsten bedeckt, als sie das Bad verließ, um sich den vier Männern zu stellen, die sich in ihrem Wohnzimmer ausgebreitet hatten. Offenbar hatte dieses Gruppengespräch Vorrang vor der Überwachung.
    Dela wollte ihr Mitleid nicht, auch wenn sie es auf ihren Gesichtern sah. Sie

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