Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
winzigen Papierrollschuhen, deren Rollen ich mit kurzen Fäden verzierte, stibitzt aus dem Nähkasten meiner Mutter, und mit einem Fernseher aus einer Sun-Maid -Rosinenpackung.
Dann stellte ich mein ganzes Ensemble von Marienkäfern Peter vor, der ein spontanes »Wow!« ausstieß.
Nachdem ich alle Figuren auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte, zeigte ich ihm, wie man die Marienkäfer vorsichtig an- und auszog, ohne sie zu zerreißen. »Die sind total schön. Aber möchtest du sie nicht lieber zu Hause behalten und damit spielen, wenn du allein bist, Schätzchen? Sie sind zu schön, um sie an mich zu verschwenden. Ich bin erwachsen. Ich kann mich nicht richtig darüber freuen.«
»Willst du sie nicht?«
»Nein, darum geht es nicht, es ist bloß, weil … Also, ich dachte, du hättest mehr Spaß daran, selbst damit zu spielen. Mehr als ich in meinem Alter.«
»Die sind für dich! Ich habe sie extra für dich gemacht!«
»Oh, schon gut, mein Liebes. Natürlich will ich sie haben.«
»Wenn du sie nicht willst, werfe ich sie in den Müll.«
»Nein, ich werde damit spielen«, sagte Peter. »Wenn du nicht da bist und mir fehlst, werde ich damit spielen.«
»Ganz bestimmt?«
»Ja, wenn du mir genau zeigst, wie ich damit umgehen muss, und wenn du mir alle Namen sagst. Ich zeige sie Karen.«
»Nein! Karen macht alles kaputt, sie ist nicht vorsichtig genug!«
»Ja, da hast du wohl recht. Es wäre keine Absicht von ihr, aber sie würde alles kaputtmachen.«
Peter verstaute das Spielset mit den Käferfiguren in der großen schwarzen Truhe mit dem kaputten Riegel, in der er alle Sachen von mir verwahrte. In dieser schwarzen Kammer hätten sie für immer überdauern und mit der Zeit vergilben können, so wie das gerahmte Bild von Tiger und Adler, wenn Karen nicht eines Nachts an die Truhe gegangen wäre und alle Marienkäfer samt Zubehör zerrissen hätte. Als Peter mir das erzählte, hatte er Tränen in den Augen.
»Es tut mir leid, mein Liebes. Inès und ich waren im Bett, als Karen das machte.«
»Hast du sie bestraft?«
»Ja, sie hat Schläge bekommen. Ich schlage Kinder nicht gerne und halte eigentlich auch nichts davon, aber was Karen da getan hat, war wirklich gemein. Du hast so viel Zeit für diese Marienkäfer geopfert. Ich hab ihr den Hintern versohlt, und sie musste den ganzen Tag in ihrem Zimmer bleiben. Sie hat in einem fort geweint, aber ich hab sie nicht rausgelassen.«
***
Meine Mutter erlaubte Peter und mir inzwischen, auf dem Motorrad bis zum Hudson Park zu fahren. Im Wald an dem großen See vergewisserte Peter sich immer, dass uns niemand sah, und bat mich dann um einen Fischkuss. Für einen Fischkuss musste man die Lippen spitzen wie die küssenden Fische in der Zoohandlung. Fischküsse waren nicht so ekelig wie andere Küsse, da sich unsere Lippen kaum berührten. Inzwischen hatte ich mich an die meisten Kussarten gewöhnt; die Einzige, die ich nicht mochte, war Bazooka Joe . Der Bazooka Joe kam selten vor. Wir machten ihn nie in der Öffentlichkeit, weil er zu lange dauerte. Dafür kaufte Peter Bazooka-Joe -Kaugummi, wir lasen gemeinsam die kurze Bildergeschichte in der Verpackung, dann nahm ich das harte Stück Kaugummi und kaute es weich. Ich gab es an Peter weiter, und er gab es wieder zurück. Dabei berührten sich unweigerlich unsere Zungen, und es fühlte sich an, als würde ein Fisch in meinem Mund zappeln. Jedes Mal, wenn wir diesen neuen Kuss ausprobierten, empfand ich im ersten Moment Unbehagen; dann erstarb das Gefühl so schnell, wie es aufgetaucht war. Wann immer ich so ein Gefühl verlor, spürte ich auch den Rest des Tages so gut wie nichts mehr, manchmal sogar mehrere Tage lang. In letzter Zeit hatte Poppa öfter gesagt, ich sei kalt und herzlos, genau wie die »Schlampe in Connecticut«, und ich fragte mich, ob er recht hatte.
***
In diesem Jahr sollte ich Erstkommunion feiern, erzählte ich Peter bei einem unserer Spaziergänge im Hudson Park, wo wir uns das Laub ansahen. Ich konnte es kaum erwarten, das Fleisch Jesu in mir aufzunehmen und ein Teil von Gott zu werden. Manche Kinder verstanden die Kommunion nicht; sie fanden die ganze Sache irgendwie ekelig und fragten sich sogar, warum sie die Hostie nicht kauen durften.
»Dummköpfe«, sagte ich und riss ein bräunlich-grünes Blatt von einer Platane. »Die glauben, man könnte von der Hostie abbeißen wie von einem alten Kaugummi oder so. In meiner Klasse ist ein schrecklicher Junge, der hat sogar gesagt, er würde
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