Timeless: Roman (German Edition)
wirkte völlig konzentriert, als wäre er überzeugt, dass der Schlüssel für ihr Zusammensein über die Zeit hinaus in ihren Liedern zu finden sei.
Als das Tageslicht durch die Fenster sickerte, sagte Michele widerstrebend: »Ich sollte jetzt wohl zurückkehren.«
»O mein Gott, ich habe völlig die Zeit vergessen«, rief Philip schuldbewusst.
»Ist in Ordnung. Ich habe jede Minute genossen«, lächelte Michele.
»Ich bringe dich nach Hause.« Philip erhob sich und bot ihr den Arm an.
»Ins Jahr 2010?« Michele lachte.
»Würde ich gern. Aber wenigstens bis zum Windsor Mansion.« Philip reichte ihr das Notenblatt. »Kommst du bald zurück?«
»Natürlich«, versprach Michele.
Am Abend vor dem Klassenausflug nach Newport packte Michele gerade ihre Reisetasche, als ihr Handy läutete. Auf dem Display flackerte das Bild von Kristen auf. Michele biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe, als ihr klar wurde, wie viele Tage verstrichen waren, seit sie mit ihren Freundinnen telefoniert hatte. Schnell griff sie nach dem Handy.
»Hallo, Süße«, sagte sie. »Es tut mir so leid, dass ich erst jetzt …«
»Michele! Wo hast du denn nur gesteckt? Amanda ist auch hier.«
»O mein Gott, nicht zu fassen, dass wir dich tatsächlich erreicht haben«, rief Amanda. »Was ist los bei dir? Bist du okay?«
»Ja, bin ich. Eigentlich geht es mir ziemlich gut, ob ihr’s glaubt oder nicht. Aber ich vermisse euch ganz doll. Es tut mir so leid, dass ich mich nicht gemeldet habe«, sagte Michele. »Aber hier ist so viel los …«
»Du hast jemanden kennengelernt«, stellte Kristen fest.
Michele fühlte sich ertappt und musste unwillkürlich lachen. War es so offensichtlich? »Warum sagst du das?«, fragte sie und versuchte, unschuldig zu klingen.
»Versuch nicht, es zu leugnen. Wir kennen dich so gut wie uns selbst«, warnte Kristen.
»Ist doch völlig klar. Du verschwindest tagelang, und jetzt klingst du irgendwie weggetreten und unglaublich glücklich«, sagte Amanda. »Ich verstehe nur nicht, wa-rum du es uns nicht erzählst. Dafür sind Freundinnen doch da.«
»Ich weiß«, gab Michele kleinlaut zu. »Tut mir leid. Ich glaube, es ist nur, dass alles ein bisschen … ungewiss ist, und ich wollte nichts überstürzen.«
»Du bist verrückt nach ihm, oder?«, vermutete Amanda ausgelassen. »Als du auf Jason scharf warst, hast du es uns sofort erzählt. Dieser Junge muss ja was ganz Besonderes sein.«
»Ist er«, gab Michele zu und lächelte. Wenn sie ihnen doch nur sagen könnte wie besonders.
»Okay, erzähl mehr über ihn. Können wir ihn uns bei Facebook anschauen?«, fragte Kristen eifrig.
»Hm, nein«, lachte Michele. »Da findet ihr ihn nicht, er ist auch nicht auf Twitter.«
»Wow«, bemerkte Kristen erstaunt. »Sehr geheimnisvoll und altmodisch.«
»Also, ich erzähl später mehr über ihn … wenn etwas passiert«, sagte Michele hastig, bestrebt, das Thema zu wechseln, bevor sie zu viel verriet. »Was tut sich bei euch? Ich will alles ganz genau wissen.«
Nachdem sich Michele zwanzig Minuten später von ihren Freundinnen verabschiedet hatte, fiel ihr ein, dass ihre Großeltern vermutlich von ihr erwarteten, dass sie sich heute Abend von ihnen verabschiedete. Schließlich musste sie morgen sehr früh aufbrechen. Sie hatte sie noch nicht nach oben kommen hören, also ging sie nach unten. Im Zwischengeschoss stieß sie auf Annaleigh.
»Hey, wissen Sie, wo meine Großeltern sind?«, fragte sie.
»Ja, vor einer Viertelstunde haben sie sich Tee in die Bibliothek bringen lassen; wahrscheinlich sind sie noch dort«, erwiderte Annaleigh.
»Danke.« Michele eilte die Treppe hinunter in die Bibliothek. Dort war niemand zu sehen, doch auf einem der Lesetische standen zwei halb volle Teetassen neben einem aufgeschlagenen Buch. Michele vermutete, dass ihre Großeltern kurz hinausgegangen waren, also nahm sie am Tisch Platz und wartete. Sie warf einen Blick auf das Buch und entdeckte, dass es sich um ein altes Fotoalbum handelte. Sie betrachtete das Bild auf der aufgeschlagenen Seite – und erstarrte.
Das vergilbte Schwarz-Weiß-Foto zeigte einen attraktiven Mann in einem steifen viktorianischen Anzug. Er hatte gewelltes Haar, trug einen Mittelscheitel und hatte die dunklen Augen von der Kamera abgewandt. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, wie ein alter Bekannter, den sie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Aber sein Name überraschte sie. Auf der Bildunterschrift war zu lesen: IRVING HENRY , Rechtsanwalt, 1900
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