Timeless: Roman (German Edition)
also Lily, der ehrgeizige Teenager. In Spitzenkleid und Tanzschuhen thronte sie auf einem Hocker vor einem antiken französischen Gobelin. Ihr Kopf war zur Seite in Richtung Kamera geneigt, und ihr kesser Blick schien zu sagen: »Natürlich bin ich hier. Wo sollte ich denn sonst sein?«
»Sie hat es also geschafft!«, entfuhr es Michele. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, dass ihre Neufassung der Geschichte Lilys Karriere doch nicht ruiniert hatte. »Sie hat es wirklich geschafft.«
Fragend blickten ihre Großeltern sie an. Sicherlich wunderten sie sich, warum dies so überraschend für sie war.
»Gerade fiel mir ein, dass ich euch ja nie gefragt habe«, sagte Michele und wandte sich an Walter, »warum du und Lily ihren Mädchennamen beibehalten habt. Ich meine … was ist mit deinem Dad?«
»Ich kenne ihn gar nicht«, erwiderte Walter, die Augen auf Lilys Foto gerichtet. »Meine Mutter war da sehr … modern. Sie glaubte nicht, dass ein Star wie sie den Namen eines Mannes annehmen sollte.« Er bedachte Michele mit einem vielsagenden Blick. »Und sie war auch nicht bereit, bei einem untreuen Mann zu bleiben, und hat die Scheidung eingereicht.«
»Oh, wow!« Michele starrte ihren Großvater an. »Das wusste ich nicht.« Und plötzlich war das Puzzle vollständig. Walter war ohne Vater aufgewachsen, genau wie Michele. Er hatte erlebt, wie Lily von dem Mann betrogen wurde, dem sie vertraut hatte. Darum also war er so streng gegenüber seiner eigenen Tochter gewesen, so misstrauisch im Hinblick auf Henry Irving und dessen Absichten. Es ging gar nicht darum, dass er kein Geld hatte und keine gesellschaftliche Stellung , begriff Michele. Walter hatte sich wirklich Sorgen um Marion gemacht. Und in diesem Augenblick wurde Michele klar, dass Walter und Dorothy, was immer sie auch verschweigen mochten, Henry nicht dafür bezahlt hatten, wegzugehen.
»Tut mir leid«, erklärte Michele Walter.
»Nicht nötig«, sagte er mit einem zaghaften Lächeln. »Meine Mutter hat immer betont, dass kein Mann solche Gefühle in ihr erwecken könne wie ihre Musik. Ich hatte das Gefühl, dass sie meinen Vater nicht besonders vermisste – zumal sie von vielen gut aussehen den Männern verehrt wurde, auch als sie bereits die Blüte ihrer Jahre hinter sich hatte. Sie war sehr … ungewöhnlich. Aber sie war glücklich.«
Michele grinste. »Ungewöhnlich« – das schien es genau zu treffen. Ein Platzanweiser geleitete sie zu ihren Sitzen. Während sie auf den Beginn der Show warteten, überlegte Michele fieberhaft, ob Lily schließlich die Lieder vorgetragen hatte, die sie und Philip geschrieben hatten. Sie traute sich nicht, ihre Großeltern danach zu fragen, aber sie konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und es online zu überprüfen.
Doch als sich der Vorhang hob und die Show begann, war Michele von der Zaubernanny fasziniert und Lilys Geschichte für den Moment vergessen. Die eingängigen Songs, die unglaublichen Broadway-Stimmen, die atemberaubenden Spezialeffekte und das Bühnenbild zogen sie ganz in ihren Bann. Ihren Großeltern schien es ebenso zu ergehen. Die Show erinnerte Michele daran, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer Mutter den Film gesehen hatte, die ihrerseits als Kind mit Walter und Dorothy den Film angeschaut hatte. Dies war etwas ganz Besonderes. Spontan drückte Michele die Hand ihrer Großmutter. Dorothy wandte den Kopf und lächelte sie an.
Als der letzte Song »Anything Can Happen If You Let It« angestimmt wurde, dachte Michele, dass ihre Zeitreisen eindeutig die Botschaft dieses Songs bestätigt hatten. Als Mary Poppins und die Familie Banks zu den Sternen hochgezogen wurden, wurde die Bühne dunkel, und in diesem Augenblick ereignete sich etwas Unglaubliches. Ein dunkles, schattenhaftes Grabtuch legte sich über das Theater und wurde dann plötzlich hochgehoben. Michele sprang von ihrem Stuhl auf und gab einen erstaunten Laut von sich.
Ihre Großeltern waren verschwunden, das Publikum von Mary Poppins war wie vom Erdboden verschluckt. Stattdessen sah sie Frauen mit Bobfrisuren und in Hängekleidern und Männer mit Zylindern und Spazierstöcken. Und auf dieser großen Bühne stand die junge Lily Windsor im Scheinwerferlicht und trug ein langes, hautenges ärmelloses Kleid; eine Pelzstola war um ihre Schultern drapiert. Ihre Stimme war betörend schön und voller Gefühl, als sie sang:
Warum fühle ich mich so leer?
Wie ein Himmel ohne Sonne?
Füll meine Leere mit Glück
Und bring die Farben
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