Timeless: Roman (German Edition)
verschwammen vor ihren Augen, und der Boden bebte. Doch kurz bevor sie das Jahr 1926 hinter sich ließ, erhaschte Michele einen Blick auf Lily, die verwundert lächelte, als sie Michele – das Mädchen, von dem Lily jetzt wusste, dass es ihre künftige Urenkelin sein würde – dabei zusah, wie sie in ihre eigene Zeit zurückkehrte.
»Geh und jag deinen Träumen hinterher, du wirst es nicht bereuen. Wenn du es zulässt, kann alles geschehen.«
Scheppernd landete Michele auf ihrem Platz neben ihren Großeltern im New Amsterdam im Jahr 2010. Das Publikum war inzwischen aufgestanden, klatschte und jubelte. Aha, die Show ist zu Ende, die Darsteller werden vor den Vorhang gerufen , erkannte Michele. War ich lediglich einen Song lang abwesend? Wie ist das möglich? Sie erhob sich ebenfalls.
Dorothy sah sie erleichtert an. »Da bist du ja. Wo hast du gesteckt?«
»Oh … Ich musste auf die Toilette«, improvisierte Michele. »Ich habe mich während des Songs hinausgeschlichen.«
Als der Vorhang fiel, blickte Michele auf ihren Ringfinger und atmete tief durch. Da war er – Philips Siegelring.
17
A uf dem Heimweg vom Dinner schlug Michele ihren Großeltern vor, sich vor dem Schlafengehen gemeinsam eine von Lily Windsors Platten anzuhören. »Als ich im Theater ihr Poster gesehen habe, wollte ich sie unbedingt wieder hören.«
»Michele, das ist eine großartige Idee«, sagte Walter sichtlich erfreut.
Als sie zurück im Windsor Mansion waren, ging er ihnen ins Wohnzimmer voraus, in dem das alte Grammofon stand. Er stöberte in seiner Plattensammlung, bis er Lily Windsor in der Carnegie Hall, Mai 1935 fand, legte die Platte auf und ließ sich auf seinem Lehnstuhl am Fenster nieder. Dorothy und Michele setzten sich auf die Couch.
Der erste Song aus dem Album stammte aus Lilys Notenheft »Born for it«. Michele schloss die Augen und lauschte dem nostalgischen Klang des Oldtime Jazz, der den Raum erfüllte.
Lass sie fühlen, lass sie fliegen,
schick ihre Geschichten zum Himmel hoch.
Ich singe es voll Gespür,
oh, ich bin geschaffen dafür.
Wenn die Trompeten erklingen,
alle Sorgen der Welt versinken.
Ich lebe es voll Gespür,
oh, ich bin geschaffen dafür.
»Das war tatsächlich der erste Song, den sie geschrieben hatte«, bemerkte Walter. »Damals war sie in deinem Alter.«
Michele lächelte, überwältigt von ihren Gefühlen. »Das dachte ich mir.«
Als der zweite Song erklang, erstarrte Michele; er erinnerte sie an Philips Pianovorspiel zu ihrem Song »Jag der Zeit hinterher«. Lily sang mit ihrer Bluesstimme den Refrain:
In der normalen Welt kann ich nicht leben,
jage deshalb der Zeit hinterher.
Das Orchester stimmte ein, und Michele war völlig überwältigt. Dies hier übertraf ihre kühnsten Träume. Mom wäre sprachlos – Lily Windsor, die gerade einen meiner Songs in der Carnegie Hall singt, dachte sie mit ungläubigem Lachen.
»Michele! Warum weinst du?«, fragte Dorothy besorgt.
»Es ist nur … ich liebe diesen Song«, sagte sie zwischen Lachen und Weinen. »Tut mir leid, ich bin einfach ein Sensibelchen.«
Es erschien ihr unvorstellbar, dass ihre Zeitreisen die Geschichte so stark beeinflusst haben sollten – die Geschichte anderer und ihre eigene –, aber das hatten sie. Allmählich hatte sie das Gefühl, als würden alle Zeitperioden zusammenfallen, wie die Schichten einer Torte. Unter ihr lagen frühere Zeitspannen, die sich immer wiederholten, und über ihr war die Zukunft. Und aus unerfindlichen Gründen war sie auserwählt worden, zwischen den Zeilen zu wandern.
Sie trocknete ihre Tränen und lauschte aufmerksam dem Klavier. »Wer ist der Klavierspieler, kennt ihr ihn?«
»Natürlich. Es ist Phoenix Warren. Dies war wirklich eine mit Stars besetzte Show«, sagte Walter stolz.
»Phoenix Warren! Ihr wisst doch sicherlich, dass meine Mom mich nach seiner Komposition ›Michele‹ benannt hat?«
»Nein, das wussten wir nicht«, erwiderte Walter und senkte den Blick. Dorothys Miene verriet Schmerz.
»Ihr vermisst sie … genau wie ich«, erkannte Michele.
»Natürlich«, erwiderte Walter mit Nachdruck.
»Es tut mir leid, dass ich immer gedacht habe …« Michele versagte die Stimme. Sie wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte, doch ihre Großeltern schienen sie auch ohne Worte zu verstehen.
»Danke, Liebes«, erwiderte Dorothy sanft.
Walter warf einen Blick auf die Kaminuhr. »Es ist spät geworden. Wir sollten jetzt besser ins Bett gehen, du musst ja morgen früh in die
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