Tiphanie – Feuer der Sehnsucht
diese Schar! Sie war das Kuckucksei im fürstlichen Nest! Aber anstatt sich dafür zu schämen, befreite dieser Gedanke Tiphanie endlich aus dem Gefühl selbst auferlegter Minderwertigkeit. Sie waren alle Geschöpfe des einen Gottes. Sogar Dame Loyse war es gewesen, auch wenn dieser Gedanke die christliche Nächstenliebe arg strapazierte. Auf jeden Fall gab es keinen Grund, die Augen niederzuschlagen und sich zu schämen.
Sie sank in eine anmutige Reverenz vor dem Herzog, der ihr die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen. »Ich freue mich, Euch zu sehen, Dame Tristane! Ich möchte Euch meiner lieben Herzogin vorstellen!«
»Euer Gnaden sind zu gütig«, sagte Tiphanie scheu und küsste der Herzogin die schmale, beringte, weiße Hand. Sie erntete ein liebenswürdiges Lächeln und einen interessierten Blick aus blassen blauen Augen.
»Ich muss gestehen, ich bin froh darüber, dass Ihr Euch dazu entschieden habt, die Begleitung des Seigneurs de Morvan zu wählen und nicht jene Eures Hundes«, scherzte sie heiter. »Ich bewundere Euren Mut! Ich schätze für meinen Teil Hunde, die eine Spur kleiner sind.«
»Marron ist kein Ungeheuer«, widersprach Tiphanie leise. »Er besitzt eine treue Seele, auch wenn sein Temperament sich gegen Wände und eiserne Gitter aufbäumt. Allein, wie könnte man ihm das verübeln?«
Die Stirn des Herzogs runzelte sich in einem flüchtigen Anflug von fragendem Unbehagen. Tiphanie spürte, dass er sehr wohl eine Bedeutung hinter ihren Worten fand, die über das Schicksal eines Hundes hinausging. Er machte den Eindruck eines Mannes auf sie, der sich nicht von Äußerlichkeiten blenden ließ. Auch nicht von den barmherzigen Lügen, die Dame Marthe um ihre Person gesponnen hatte?
»Marron habt Ihr ihn also genannt«, murmelte er nachdenklich, und zum ersten Male dachte Tiphanie selbst daran, dass dieses Wort nicht nur die Kastanienfarbe seiner schönen Augen beschrieb, sondern im höfischen Französisch auch »Sklave« bedeutete oder ein verwildertes Tier. Sie sah keinen Grund, ihren Entschluss deswegen rückgängig zu machen, ganz im Gegenteil.
Sie begegnete dem fragenden Blick des Herrschers. »Ein jedes der Geschöpfe Gottes sollte einen Namen haben, der zu ihm passt!«, entgegnete sie mit einem Anflug von Eigensinn. »Ohne den richtigen Namen ist es verloren ...«
Da wurde mehr zwischen ihnen gesagt, als die Worte ausdrückten. Tiphanie merkte erschrocken, dass sie einen lebenswichtigen Umstand außer Acht ließ, der ihr in Sainte Anne durch so viele Jahre geholfen hatte. Sie wusste nicht mehr zur rechten Zeit den Mund zu halten!
»Ihr seid das erste Mal bei Hofe, nicht wahr?«, versuchte die Herzogin, den seltsamen Bann zu brechen, den sie plötzlich zu verspüren meinte. Sie wusste, dass ihr Gemahl in diesen Tagen Probleme hatte, aber es kam selten vor, dass er sich dermaßen seine Beanspruchung anmerken ließ.
»Ja, Euer Gnaden«, wisperte Tiphanie und hoffte, dass die edle Frau jetzt nicht auf die Idee kam, Fragen zu stellen, auf die sie keine Antworten wusste.
Jannik de Morvan fand es an der Zeit einzugreifen. Auch er hatte das deutliche Gefühl, das Jean de Montfort Tiphanie ein Interesse entgegenbrachte, das weit über das übliche Maß hinausging. Man musste nur den nachdenklichen Blick sehen, mit dem der Herzog die anmutige, schlanke Mädchengestalt musterte.
Aber genau in diesem Moment ertönte glücklicherweise das zeremonielle Hornsignal, das die Ankunft der Speisen für das Bankett verkündete. Die Prozession der Diener hatte einen weiten Weg aus des Herzogs Küchen hinter sich, und wenngleich die Schüsseln und Platten noch dampften, so beeilte sich doch jedermann, seinen Platz an der festlich gedeckten Tafel einzunehmen.
Im allgemeinen Durcheinander verabschiedete die Herzogin Tiphanie fast ein wenig erleichtert, und wenig später fand sie sich mit ihrem Begleiter an jener Stirnseite der großen Tafel, die den bedeutendsten Damen und Herren des Landes vorbehalten war. Erwann und ein weiterer Knappe standen bereit, um den Wein in die kostbaren Silberbecher zu gießen, die besten Stücke Fleisch für sie abzuschneiden und die Köstlichkeiten zu servieren, die auf den großen Brettern, Schalen und Tabletts herumgereicht wurden.
Tiphanie, für die bereits jede Mahlzeit, die ausreichend sättigte, ein Ereignis war, bekam große Augen über dem Gepränge, das hier entfaltet wurde. Schneeweißes, fein gewobenes Leinen bedeckte die Tische, und die silbernen Speisemesser
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