Titanic - Wie ich den Untergang ueberlebte
Land bis
zum nächsten Morgen erreicht werden würde.
Es gibt
keinen Zweifel daran, daß viele von uns die Wartezeit dieser vier Tage schwer
ertrugen: das Schiff war völlig belegt und bot nicht die übliche
Bequemlichkeit. Die Wünsche nach frischer Kleidung und großer Wäsche traten
hervor, und über allem lag die Erwartung des Treffens mit Angehörigen an der
Pier, in vielen Fällen mit dem Wissen, daß andere Freunde zurückgelassen worden
waren und nicht nach Hause zurückkehren würden. Einige sahen einem Treffen mit
jenen Freunden entgegen, denen sie auf dem Deck der Titanic »Au revoir« gesagt
hatten, »gebracht von einem schnelleren Schiff – « sagten sie sich – oder auf
jeden Fall nachfolgend auf einem anderen Schiff. Tatsächlich haben nur sehr
wenige in Gedanken die Möglichkeit erwogen, daß jene sich im eiskalten Wasser
des Ozeans befanden. Aber wir unterstützten sie darin, zu hoffen, daß die Californian oder die Birma weitere Schiffbrüchige aufgenommen hätten. Seltsame
Dinge waren passiert, und wir sind alle durch seltsame Umstände gegangen. Aber
mitten aus diesen angespannten Gefühlen ragte ein Faktum heraus: niemand war
krank. Kapitän Rostron bestätigte, daß der Schiffsarzt am Dienstag eine
einwandfreie Gesundheitsliste vorlegte, bis auf Frostbeulen und angeschlagene
Nerven. Es gab keine Krankheit, die auf den stundenlangen Aufenthalt in kalter
Nacht zurückzuführen wäre – und, daran muß erinnert werden, eine beträchtliche
Anzahl schwamm für einige Stunden herum, als die Titanic sank. Dann
saßen sie entweder für Stunden in ihren nassen Sachen oder lagen flach auf
gekenterten Booten, während die See sie teilweise überspülte, bis sie
schließlich in ein Rettungsboot übernommen wurden [nicht ganz zutreffend, siehe
später]. Keine Szene von weinenden Frauen, die Stunde um Stunde über ihren
Verlust brüteten, bis sie vor Kummer verrückt wurden – alles dieses wurde der
Presse berichtet von Leuten an Bord der Carpathia. Diese Frauen
bewältigten ihre Sorgen mit erhabenem Mut, kamen an Deck und sprachen mit ihren
Mit-Passagieren von Angesicht zu Angesicht, und inmitten ihres Verlustes
vergaßen sie nicht, sich mit jenen zu freuen, die mit ihren Freunden an Deck
der Carpathia vereinigt waren oder mit ihnen zusammen im Boot gefahren
waren. Es gab keinen Grund für jene an der Küste, die Carpathia als
»Totenschiff« zu bezeichnen oder Leichenbeschauer und Särge zur Pier zu
schicken; ihre Passagiere waren allgemein bei guter Gesundheit, und sie
brauchten nicht vorzugeben, daß sie es nicht wären.
Bald darauf
kam Land in Sicht, und es war sehr schön, es wiederzusehen. Inzwischen waren
acht Tage vergangen, seit wir Southampton verlassen hatten, aber die Zeit
schien »ausgedehnt zu sein bis zum Schicksalsende« und wurde zu acht Wochen. Es
waren so viele dramatische Eindrücke in den letzten Tagen zu verarbeiten
gewesen, daß die ersten vier friedlichen, eindrucksarmen Tage kaum Spuren in
der Erinnerung hinterließen und fast aus dem Gedächtnis verschwunden waren. Es
bedeutete genauso viel Mühe, zurückzufinden nach Southampton, Cherbourg und
Queenstown, wie sich an Eindrücke aus dem letzten Jahr zu erinnern. Ich denke, wir
alle erkannten, daß die Zeit nicht so sehr nach Sekunden oder Minuten, sondern
mehr nach Eindrücken gerechnet werden sollte. Das, was Astronomen als Datum
»15. April 1912, 2.20 Uhr« nennen, bezeichnen die Überlebenden als »das Sinken
der Titanic, die folgenden Stunden sind »treibend in der offenen See«
und »4.30 Uhr« bedeutet »von der Carpathia gerettet«. Diese Uhr ist von
einer geistigen Art, und die Stunden, Minuten und Sekunden hinterlassen tiefe
Eindrücke auf dem Zifferblatt der Gefühle, stark und leise. Umgeben von jeder
Art von Schleppern, von denen – genauso wie von jedem erreichbaren Gebäude in
Flußnähe – Magnesium-Blitze der Photographen abgeschossen wurden, während
Reporter nach Neuigkeiten des Unglücks schrien und nach Bildern der Passagiere,
so fuhr die Carpathia langsam zu ihrem Platz an der Cunard-Pier * , die Landungsbrücke wurde übergeben, und dann setzten
wir zu guter letzt den Fuß auf amerikanischen Boden; sehr dankbare, zufriedene
Menschen.
Auch bei
diesem Landgang wurde der geistige und physische Zustand der Geretteten
erheblich übertrieben – eine Beschreibung sprach davon, wir wären »halb
ohnmächtig, halb verrückt, an Einbildungen leidend; erst jetzt beginnend, den
Horror zu verstehen«. Es ist
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