Tochter der Insel - Historischer Roman
Als müsste sie sich schon jetzt von allem verabschieden, kniete Lea nieder, strich über das Dünengras, tauchte eine Hand in den weichen Boden.
»Ich muss gehen, Immo.«
Er sah ihr wehmütiges Lächeln. Sie erhob sich, strich ihm zart über die Wange und wandte sich dann dem Pfad zum Dorf zu. Er blickte ihr nach. Ein schlankes anmutiges Mädchen in einem dunklen Mantel.
Lief sie vor ihm davon? Vertrieb er sie von Wangerooge? Der Gedanke war ihm unerträglich.
Für einen winzigen Augenblick verspürte Immo den drängenden Wunsch, Lea nachzulaufen, sie zurückzuhalten. Doch dann verflüchtigte er sich wie ein Duft, den der Wind davontrug.
5
D er Türklopfer wurde angeschlagen, Lea zuckte zusammen. Ferdinand Gärber war der letzte Mensch, den sie jetzt sehen wollte. Sie hätte viel dafür gegeben, allein sein zu können. Wieder und wieder stiegen vor ihrem inneren Auge die Bilder der Begegnung mit Immo am Strand auf. Sie schluckte und bemühte sich, die Fassung zu wahren. In ihrem Kopf drehte sich wie ein Karussell die Gewissheit, dass sie mit ihren dummen Worten alles verdorben hatte. Lea spürte, wie sich ihre Wangen bei der Erinnerung daran vor Scham röteten. Es nützte nichts, sich einzureden, dass nur der Zeitpunkt falsch gewählt war. Immo liebte sie nicht. Bis zuletzt hatte sie darauf gehofft, dass er sie davon abhalten würde, nach Amerika zu gehen. Doch das war nicht geschehen.
Armer Immo! Was hatte sie ihm nur zugemutet! Neben dem Kummer mit Carlotta musste er nun auch noch mit ihrem kindischen Geständnis fertigwerden. Es würde das Beste sein, wenn sie so schnell als irgend möglich die Insel verließ. Sie wusste nicht, ob sie es ertragen könnte, Immo jemals wieder in die Augen zu sehen.
Das erneute Klopfen an der Tür riss Lea aus ihren Gedanken. Sie öffnete widerwillig. Doch es war nicht Ferdinand Gärber, der vor der Tür stand, sondern Heye Harms, der Kutscher, der auf der Insel die ankommenden Gäste zu ihren Quartieren fuhr. Verlegen drehte er seinen Hut zwischen den Händen.
»Tag auch, Lea. Wunderst dich sicher, dass ich hier einfach vor der Tür stehe, noch dazu so kurz nach der Beerdigung. Doch ich hab mir gesagt, Heye, fass dir ein Herz und geh hin.« Sein Gesicht bekam eine tiefrote Farbe.
Umständlich zog er einen Umschlag aus seiner Jackentasche. »Du wirst nicht glauben, was ich hier für dich hab. Ist direkt beim Kapitän der Telegraph für dich abgegeben worden. Dieser Trottel hat einige Zeit auf dem Brief gesessen. Erst heute Morgen hat einer von der Mannschaft den Umschlag entdeckt und mir zukommen lassen. Soll direkt bei dir abgegeben werden. Ich hab mich mit dem Abliefern der Gäste beeilt, um dir den Brief ganz schnell bringen zu können. Du wartest ja schon so lange auf Nachricht von ihr, nicht.« Er streckte ihr einen Umschlag entgegen und lächelte Lea beifallheischend zu.
Diese betrachtete ihn verständnislos, doch dann begriff sie. Heye hatte den Absender gelesen. Ungläubig blickte sie von ihm zu dem Umschlag. Ohne Zweifel, dies war ein Brief von Rebekka! Sie griff danach.
»Vielen Dank.« Lea sprach die Worte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Heye setzte seinen Hut wieder auf, hob die Hand zum Gruß und wandte sich um.
Lea nahm es kaum wahr. Noch im Gehen riss sie den Umschlag auf. Eine Karte und einige Geldscheine fielen zu Boden. Lea bückte sich und starrte wie gebannt auf das Billett in ihren Händen. Eine Passage für die Fahrt am 15. April von Bremerhaven nach New Orleans! Sie ließ sich in einen Stuhl sinken. Es schien, als habe das Schicksal ihr die Entscheidung darüber, wann sie die Insel verlassen sollte, abgenommen. Ihre Gedanken begannen zu rasen. Der 15. April – das war ja schon in wenigen Tagen! Fiebrig zog Lea den Bogen aus dem Kuvert.
Meine liebste Lea,
ich wünsche mir so sehr, von dir zu hören, und mehr noch, dich zu sehen. Doch alle Briefe sind unbeantwortet geblieben. Aus diesem Grund wähle ich jetzt einen anderen Weg, dir die Post und eine Fahrkarte nach New Orleans zukommen zu lassen. Hatte ich nicht versprochen, dich bald zu holen?! Jetzt ist es so weit. Bitte komm!
Lea, ich bin schwanger und will mein Kind nicht allein auf dieser abgelegenen Farm bekommen. Arne weiß nichts von der Schwangerschaft. Es hat mehr und mehr Streit zwischen den Brüdern gegeben. Daran trägt – das muss ich leider sagen – mein Mann die Hauptschuld. Manchmal ging es auch um meine Anwesenheit auf der Farm, die Joris nicht recht ist.
Und jetzt hat
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